Full text: Die Weltgeschichte. Erster Theil. Das Alterthum. (1)

Sokrates. 177 
seinen Feind lieben soll, lehrte Sokrates nicht und ebenso wenig erhob 
er sich zu der Keuschheit, wie sie das Christenthum gebietet. Er ahnte 
zwar die Würde ächter Tugend wie den Einen Gott aller Völker, aber 
unter Tugend verstand er doch nur die Tüchtigkeit, sich der rechten Mittel 
immer rechtzeitig und in rechter Weise zu bedienen, der Kern seiner 
Tugend war der persönliche Vortheil in diesem Leben; er ermahnte zu 
ihr deßhalb, weil sie dem Menschen mehr nützt als das Laster, so z. B. 
zur Mäßigkeit und Selbstbeherrschung, denn der Unmäßige, der Knecht 
seiner sinnlichen Leidenschaft, kann ja vielmal weder sich noch anderen 
helfen und schadet sich und ihnen; der Zorn ist ein Wahnsinn, wolcher 
den Menschen seiner Vernunft beraubt u. s. w. Daher vereinigte sich 
seine Weisheit in dem Spruche: „Lerne dich selbst kennen!“ 
Kein Sophist hatte in Athen je gesprochen wie Sokrates, daher 
sammelte sich eine Schaar wißbegieriger Männer und Jünglinge um ihn; 
er suchte sie auch selbst auf und sprach mit ihnen über die mannigfaltigsten 
Dinge, über die Vorfälle des Tages, über die Angelegenheiten der 
Stadt, über die Redner, Sophisten u. s. w. Ungebildete, einbilderische 
Leute machte er oft lächerlich, indem er sie durch Fragen so in Ver- 
legenheit setzte, daß sie ihm nicht mehr antworten konnten, wenn sie sich 
nicht selbst widersprechen wollten. Namentlich trieb er die Sophisten, 
die über alles Auskunft geben wollten, in die Enge; denn er war ein 
gewürfelter Athener, kannte die Meinungen der sophistischen Meister von 
Grund aus, und wußte das Gespräch mit einer Gewandtheit zu lenken, 
welche den fertigsten Sophisten beschämte. Bei dem Volke konnte er 
nicht beliebt sein; denn es wußte recht wohl, er tadle des Volkes Leicht- 
fertigkeit, Genußsucht und Dünkel, mit dem es verlangte, daß sein 
Wille, „der Volkswille,“ als der vernünftige und unwidersprechliche gel- 
ten sollte, während es nebenher von verschmitzten Demagogen genarrt 
wurde und sich zu Thorheiten verleiten ließ, die ihm selbst den meisten 
Schaden brachten; er galt daher als ein Berächter des Volkes. Beson- 
ders schadete es ihm, daß Alkibiades und Kritias eine Zeit lang seine 
Schüler gewesen, denn diese beiden hatten in der That eine gränzenlose 
Selbstsucht und Verachtung des Volkes bewiesen; aber der große Haufen 
vergaß, daß diese Herren nie so viel hätten schaden können, wenn seine 
Gunst sie nicht so hoch emporgehoben hätte. Das abergläubische Volk 
merkte cs recht gut, daß die Sophisten und ihre Schüler nicht an die 
Götter glaubten, und nach seiner übrigens nicht ganz grundlosen Mei- 
nung war Sokrates eben nur ein Sophist nach anderer Weise; weil er 
zudem von einem eigenen Gotte sprach, so hieß es, er führe eine neue 
Religion ein, verachte die Götter des Volkes und rede den jungen Leuten 
ein, sie seien vernünftiger und aufgeklärter als die Alten. 
Endlich klagten ihn drei unbedeutende und keineswegs von perfön- 
Bumüller, Gesch. d. Alterth. 12
	        
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