Full text: Die Weltgeschichte. Erster Theil. Das Alterthum. (1)

396 Das Reich der Cäsaren. 
wurden seiue Ideale; den ungeheuren Schatten der alten Größen aber 
sah er nicht, weil sie nur von einem Standpunkte betrachtet und zu be- 
trachten gelehrt wurden und auch deßwegen, weil der politische Zustand 
seiner Zeit jedenfalls unerfreulicher war als je ein vergangener. Die 
alte Zeit, glaubte er und theilweise mit Recht, sei durch den alten Glau- 
ben geschaffen worden, und weil dieser verdorben und vernachlässigt 
wurde, sei auch die alte Thatkraft versiegt und das Glück von den Rö- 
mern gewichen. Nun bewiesen ihm ferner die Philosophen, daß der klas- 
sische Glaube durch ihre Vorgänger und sie selbst gründlich reformiert 
worden sei! Philosophie und Religion seien nun in schönster Harmonie 
(die Neuplatoniker leisteten in dieser Hinsicht sehr viel), die alten 
Mytben, deren Mißverständniß im Munde der Dichter und im Volks- 
glauben so viele Verständige geärgert und zum Unglauben verleitet 
haben, bätten ihre Deutung gefunden, der Zwiespalt der verschiedenen 
Religionen, welcher die Welt verwirrt und dem Juden= und Christen- 
thum so vielen Vorschub gethan habe, sei versöhnt, denn alle Religionen 
seien nur Bäche, die, aus einem Quelle entsprungen, einen verschiedenen 
Lauf genommen hätten und von den Unkundigen als einander fremde 
Flutben betrachtet worden wären. 
Julian, der das Wesen des Christenthums niemals erfaßt hatte, 
verstand es ebenso wenig, das Neuheidenthum, die philosophische Viel- 
götterei, in ihrer Blöße zu erkennen und sie von den Hüllen zu ent- 
kleiden, welche ihr die Gelehrten mit Kunst und wissenschaftlichem Auf- 
wand angelegt hatten. Sein Ehrgeiz erblickte ein fast göttliches Werk 
in dem Unternehmen, den alten Glauben in seiner geläuterten Gestalt 
wieder herzustellen, die Tempel wieder zu öffnen, die Opferslammen der 
Altäre wieder anzufachen und das ganze Reich zu verjüngen. Er siel 
frühzeltig iusgeheim von dem Christenthume ab, ließ sich in die My- 
sterien einweihen und opferte den Göttern, während er öffentlich als 
Christ sich gebärdete. So bielt er es auch als Cäsar in Gallien, und 
als Augustus betete er noch an dem Tage Epiphania in der Kirche zu 
Bienne. Als er endlich die Maske abwarf, gebot er allgemeine Religions- 
freiheit, womit er aber unter anderem die Absicht hatte, und so weit er 
konnte auch ausführte, die Häresieen gegen die Kirche zu unterstützen; 
ebenso verbot er den christlichen Lehrern der Rhetorik und Grammatik den 
Katheder, damit die Schulbildung jedes christlichen Elementes beraubt 
würde. Er öffnete die Göttertempel wieder, den heidnischen Priestern 
befahl er ein tugendhaftes Leben und machte Stiftungen on die Tempel, 
damit die Priester, gleich den christlichen, Wohlthaten an die Armen 
spenden wöchten; er wollte demnach christliche Tugend ohne christlichen 
Glauben, vom heidnischen Baume christliche Früchte. Den Juden er- 
laubte er nicht nur den Wiederaufbau ihres Tempels, sondern unter-
	        
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