Full text: Tagebuchblätter. Dritter Band. (3)

108 Neunundzwanzigstes Kapitel 
„Von der Rücksicht auf meine übrigen Bekannten dispensierte 
ich mich indessen, nachdem ich als Lassalles Gäste Männer wie den 
Geheimrat Boeckh, den General von Pfuel, den Geheimrat Frerichs 
u. a. gesehen und von seinem Briefwechsel mit den ersten philo— 
sophischen Autoritäten Kenntnis erhalten hatte. Das erheblichste 
meiner Bedenken schwand, nachdem ich mich durch die Lektüre seiner 
rheinischen Prozesse und durch Beobachtung dessen, was um mich 
her vorging, überzeugt hatte, daß das Verhältnis, aus dem die 
meisten Vorwürfe gegen ihn hergenommen wurden, seit vielen Jahren 
seine Natur verändert hatte und nur das gewesen war, wofür die 
Welt in eigner Gemeinheit oder in Unfähigkeit, etwas Außergewöhn— 
liches zu begreifen, es angesehen oder anzusehen affektiert hatte. 
Lassalle teilte mit mir die Abneigung gegen die Berliner Bier— 
und Weinstuben, er liebte es, in seinem bequem eingerichteten 
Hause Gesellschaft zu sehen; so kam es bald, daß ich jede Woche 
einen Abend mit ihm in seiner reichen Bibliothek zubrachte. Wir 
fanden viel Berührungspunkte und einen immer wiederkehrenden 
Gegensatz zwischen uns: er, Metaphysiker, Hegelianer, ging stets 
von dem Allgemeinen zu dem Einzelnen, von dem Abstrakten zu dem 
Konkreten; ich, mit einer realistischen Anlage, mit lückenhaftem Wissen 
von den Schulsystemen und mit einem zehnjährigen Aufenthalt in 
England hinter mir, hatte stets die Neigung, den entgegengesetzten 
Weg einzuschlagen. Oft hatten wir Gelegenheit, darüber zu scherzen, 
daß unfre Unterhaltungen einen Kommentar zu Raphaels Philo- 
sophenschule von Athen zu liefern pflegten. Freilich habe ich es 
ebenso oft anerkannt und möchte es am wenigsten hier verschweigen, 
wie sehr ich bei diesem Verkehr der Gewinner war. 
„Etwa um Weihnachten 1861 versuchte es Lassalle, mich für 
eine Agitation zu gewinnen, mit der er sich damals trug, und von 
der er] mich bei der Zurückhaltung, die ich damals noch beobachtete, 
in seiner ersten Eröffnung nur die politische Seite sehen ließ. Ich 
hielt eine solche Auffassung und also einen jeden darauf gebauten 
Plan für falsch und brachte, da ich ihm im Gespräch nicht gewachsen 
war, am folgenden Tage meine Gedanken für ihn zu Papier, ent- 
wickelte namentlich die Gründe, aus denen ich mich, lange vor dem 
äußern Bruche mit meinen alten Parteigenossen, innerlich von der 
dogmatischen, formulierten Demokratie des Jahres 1848 losgesagt
	        
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