Full text: Tagebuchblätter. Dritter Band. (3)

370 In den Kreisen der Gothaner 
der Radikalsten nicht eben weit entfernt gelegen haben können, wo 
er die Marseillaise nicht bloß als prächtige Melodie mit erhabnem 
Texte verehrt, wo ihn selbst die Carmagnole begeistert haben muß. 
Stimmte der alte Herr doch gestern, als Rouget de l'Isles Schlacht— 
lied erklungen war, keineswegs rein ironisch lächelnd, den Jakobiner= 
gesang von ?Madame Capet, die versprochen, ganz Paris erwürgen 
zu lassene, an. Mathy ist in seinen Jünglingsjahren in Phantasie 
und Glauben, dann während seines Aufenthalts in der Schweiz in 
voller, ganzer Wirklichkeit mehr als liberal, er ist Republikaner ge- 
wesen. Er hat dann gelernt an den Menschen und Dingen, daß 
die Welt unter dem Monde das Vollkommne nicht verträgt, und 
daß sein altes Ziel sich nicht für deutsche Zustände schickt, und er 
hat im Frankfurter Parlament und anderwärts mit der ihm eignen 
rücksichtslosen Entschlossenheit danach gehandelt. Er ist ein Politiker, 
der, wie sehr ihm auch liberale Reformen am Herzen liegen, wenn 
er zur Macht gelangte, stramm wie ein Preuße auf Maß und 
Ordnung nach den Gesichtspunkten des zur Zeit Möglichen halten 
würde. Wie er, obwohl im allgemeinen freihändlerischen Ideen zu- 
gethan, nach seinen gestrigen Außerungen entschieden für Einführung 
des Tabakmonopols stimmt, so weiß er sein Bedürfnis nach Freiheit 
auch sonst der Wirklichkeit zu unterwerfen. Aber die Erinnerung 
an sein einstiges Ideal ist ihm geblieben, und vielleicht mehr als 
die Erinnerung. Er bewahrt es, wenn ich mancherlei Außerungen 
von ihm nicht unrichtig deute, in einem warmen Winkel seiner Seele 
wie das Bild einer Jugendgeliebten. Die Sehnsucht nach ihr hat 
sich nicht erfüllt. Auf sie zu hoffen war ein Traum, aber ein Traum 
voll beglückender Glut. Eine der Wirklichkeit vergessende Stunde 
läßt ihn wieder aufleuchten. Dann versinken seine Gestalten wieder, 
um den Pflichten Raum zu geben, die der Verstand uns auferlegt."“ 
Außerlich war Karl Mathy eine gedrungne Gestalt von etwas 
über Mittelgröße, ein schöner Kopf mit spärlich gewordnem, früh 
ergrautem Haar, unter hoher breiter Stirn ein Paar großer, leuchtender, 
hellblauer Augen, der Ausdruck der Züge Milde mit Festigkeit ge- 
paart und ein wenig Schelmerei dazwischen. Die Oberlippe trug 
einen kurz gehaltnen grauen Schnurrbart, das mäßig gerötete Gesicht 
rahmte ein ebenfalls kurz geschnittner Bart von der Art ein, wie 
man sie früher in Süddeutschland Demagogenbärte nannte. Seine
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.