Full text: Tagebuchblätter. Erster Band. (1)

178 Siebentes Kapitel 7. September 
einsammelt. Eine Frau mit einem Kinde auf dem Arme will eine 
Gabe pour acheter du pain. Ein großer starker Mann, nichts 
weniger als schlecht bei Leibe, singt mit tiefer Baßstimme einen Vers 
mit den Schlußworten: O, C'’est terrible de mourir de faim! 
Fünf oder sechs unsagbar schmutzige kleine Rangen umwimmeln 
einen unfrer Musketiere, der ein Brot hat — man bäckt sie hier in 
der Form von Hufeisen —, und balgen sich, als er ihnen ein tüch- 
tiges Stück davon abbricht, mit lautem Geschrei um die milde 
Spende. Es soll wegen Stillstandes der Fabriken bittre Not unter 
der zahlreichen Fabrikbevölkerung von Reims herrschen, und die 
Väter der Stadt befürchten einen Aufstand, wenn wir nicht abziehen. 
Ich mache, nach Hause zurückgekehrt, verschiedne Aufsätze, 
u. a. einen zur Aufklärung über Rußlands Stellung zum Kriege. 
Am Nachmittag, als der Chef fortgegangen war,1 wurde mit Abeken 
eine größere Exkursion nach den Sehenswürdigkeiten der Stadt unter- 
nommen, die im Verhältnis zur Zahl ihrer Einwohner — ungefähr 
60 000 — sehr ausgedehnt ist, da die Häuser zum größern Teil 
nur ein oder zwei Stockwerke haben. Wir gingen als Leute, die 
einmal ihre Lateiner gelesen haben, zuerst nach der Promenade 
hinaus, um uns den altrömischen Triumphbogen zu besehen. Außer 
seinem Altertum ist nicht viel an ihm zu rühmen. Er zeigt nur 
wenige Säulentrommeln und Skulpturreste, und seine Krönung ist 
ganz neu. Dann bei heftigem Regen weiter durch die Anlagen 
nach der Statue Colberts, am Zirkus vorbei, der jetzt auch Ein- 
quartierung beherbergt, und am Kanal der Vesle und dem Hafen- 
bassin hin, wo große plumpe Frachtkähne liegen. An einem Pfahle 
steht: Pêche interdite, aber inter arma silent leges: unmittelbar 
unter dem Verbot angeln drei unbefangne Blusenmänner, und 
weiterhin sieht man wohl noch dreißig solcher Fischer ihre Ruten 
über das lichtgrüne Wasser halten. Von hier links hinauf durch 
eine ärmliche Straße nach der zweiten Hauptkirche der Stadt. Sie 
ist dem heiligen Remus geweiht, gehört der Zeit des Überganges 
aus dem romanischen in den gotischen Baustil an und macht durch 
  
1 Abeken, S. 408, den 7. September 1870: „Nach Tisch machte ich mit 
unserm Preßmann Dr. Busch einen großen Spaziergang; wir gingen zuerst nach 
dem höchst merkwürdigen Triumphbogen aus römischer Zeit.“
	        
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