11. September Siebentes Kapitel 185
dienst in der Kathedrale, die heute fast ohne Unterlaß ihre Glocken
und Glöckchen arbeiten läßt. Das Chor war voll von Geistlichen
aller Arten und Sorten: veilchenblaue, schwarze und weiß und
schwarze Kleriker, rote Kragen, violette Gewänder, schwarze Bäffchen
mit weißem Saum, seidne Kleider, tuchne Kleider, leinene Kleider
zogen an uns vorüber, der Erzbischof mit langer Schleppe voran,
neben ihm zwei andre vornehme Priester, hinter ihm seine Pagen,
die weiß und rot gekleideten Chorknaben. Als er hinausrauschte
und der andächtigen Weiberschaft an der Thür des Gitters mit zwei
erhobnen Fingern der rechten Hand seinen Segen spendete, bekam
ich auch was davon ab.
Im Laufe des Tages war ein Herr Werle beim Chef, ein
alter hagerer Mann mit wackelndem Kopfe und dem bei anständig
gekleideten Franzosen, wie es scheint, unvermeidlichen roten Bändchen
im Knopfloch. Er sollte Mitglied des Corps 1égislatif und Be-
sitzer oder Partner der Firma Clicquot Veuve sein, und es hieß,
er wolle mit dem Minister über die Mittel reden, mit denen man
der in der Stadt herrschenden Not steuern und einen Aufstand der
Armen gegen die Reichen verhüten könne. Die Reichen fürchten eine
Erklärung der roten Republik durch die Arbeiter, unter denen es
bedenklich gären soll, und da Reims eine Fabrikstadt ist, die zehn-
bis zwölftausend Ouvriers in ihren Mauern zählt, so mag in der
That Gefahr für den Fall vorhanden sein, daß unfre Soldaten die
Stadt wieder verlassen. Das hätte man sich vor vier Wochen auch
nicht träumen lassen: deutsche Truppen die Beschützer von Franzosen
vor dem Kommunismus — fürwahr Wunder auf Wunder! Herr
Werle spricht übrigens Deutsch, ja er ist, wie man sagte, von Ge-
burt ein Landsmann von uns, wie mehrere von den Besitzern der
großen Champagnergeschäfte hier und in der Nachbarschaft.
Auch sonst erschienen Leute der Stadt, der mit diesem und der
mit jenem Anliegen, im Büreau und wollten den Kanzler sprechen.
Unter andern eine Frau, die sich beklagte, daß ihr die Soldaten
mehrere Säcke mit Kartoffeln weggenommen hätten, und die ihr
1 Der Maire von Reims. Eine Besprechung Bismarcks mit ihm am
13. September erwähnen die Bismarck-Regesten I, 404; es handelte sich dabei
um die deutschen Friedensbedingungen.