Full text: Tagebuchblätter. Erster Band. (1)

262 Neuntes Kapitel 6. Oktober 
war, die Aussicht. Endlich kommt eine Einsattlung in dem Höhen- 
kamm, ein schmales Thal, über dem eine gelbliche Erhöhung mit 
scharfem Rande, vielleicht ein Fort, sichtbar wird, und links davon 
erheben sich über einer Wasserleitung oder einem Viadukt in Rauch- 
säulen, die aus Fabrikschornsteinen aufsteigen, die bläulichen Um- 
risse eines großen Kuppelbaus. Das Pantheon! Hurra, wir 
sind vor Paris! Es kann kaum mehr als anderthalb Meilen von 
hier bis dahin sein. 
Bald nachher kamen wir auf die große gepflasterte Kaiserstraße 
an einer Stelle, wo ein bayrisches Pikett an einer sie kreuzenden 
und nach Paris hineinführenden Chaussee Wache hielt. Links weite 
Ebene, rechts die Fortsetzung der waldigen Hügelkette. Eine weiße 
Stadt auf halber Höhe des Abhangs: Villejuif oder Sceaux? Dann 
unten noch durch zwei Dörfer, wo die Einwohner nicht geflüchtet 
sind und uns zahlreich erwarten. Endlich durch ein Gitterthor mit 
vergoldeten Spitzen, durch eine breite Gasse, durch andre belebte 
Straßen, quer über eine schnurgerade Allee mit alten Bäumen, durch 
eine kurze Straße mit dreistöckigen Häusern, eleganten Läden, einem 
Café, und über eine zweite Allee in eine sich senkende Nebengasse 
hinab — wir sind in Versailles und vor dem für uns ausgewählten 
Quartier. 
Am 6. Oktober, dem Tage nach unserm Eintreffen in der alten 
Königsstadt Frankreichs, äußerte Keudell gegen mich, drei Wochen 
könne unser Aufenthalt hier wohl dauern, und diese Meinung kam 
mir ganz glaubwürdig vor; denn man war durch den bisherigen 
Verlauf des Krieges an rasche Erfolge gewöhnt. Wir blieben aber, 
wie man weiß, und wie der Minister nach einer im nächsten Kapitel 
folgenden Notiz geahnt haben muß, fünf ganze Monate, und da 
sich überdies in dem Hause, wo wir Unterkunft gefunden hatten, 
wie ebenfalls sattsam bekannt ist, sehr wichtige Dinge abspielten, so 
wird seine ausführliche Beschreibung vermutlich willkommen sein. 
Das Haus, das der Bundeskanzler bewohnte, gehörte einer 
Madame Jessé, der Witwe eines wohlhabenden Tuchfabrikanten, die 
mit ihren beiden Söhnen kurz vor unfrer Ankunft nach der Picardie 
oder der Sologne geflüchtet war und zu Hütern ihres Eigentums 
nur ihren Gärtner und dessen Frau zurückgelassen hatte. Es steht 
auf der Rue de Provence, die die Avenue de St. Cloud kurz vor
	        
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