Full text: Tagebuchblätter. Erster Band. (1)

6. Oktober Neuntes Kapitel 267 
Wagenremise aus, über der die Gärtnersleute wohnten, eine Reihe 
von Obstspalieren und vor diesen teils offne, teils mit Glas bedeckte 
Gemüse- und Blumerbeete hin. 
In den Gängen des Parks sah man in hellen Herbstnächten 
die hohe Gestalt und die weiße Mütze des Kanzlers aus dem 
Schatten der Büsche in den Mondschein heraustreten und langsam 
weiter wandeln. Über was sann er nach, der schlaflose Mann? 
Welche Gedanken wälzte er in seinem Haupte, der einsame Wandrer? 
Welche Pläne keimten oder reiften ihm in stiller Mitternachts- 
stunde? — Minder andächtig stimmte ein andrer Freund des Parks, 
der ewig junge Musenjünger Abeken, wenn man ihn des Abends 
mit wenig melodischer Stimme Strophen griechischer Tragiker oder 
Wandrers Nachtlied rezitieren hörte, und fast komisch nahm sichs 
aus, wenn der alte Jüngling des Morgens unter den dürren 
Blättern am Boden empfindsam nach Veilchen für die Frau Geheime 
Legationsrätin in Berlin suchte. Doch ziemte sichs am Ende nicht, 
daß ich darüber inwendig lächelte; denn ich habe zu bekennen, daß 
ich, von ihm angesteckt, meiner Frau Doktorin endlich auch welche 
schickte und Freude damit machte. 
Wie man sieht, war nicht das gesamte mobile Auswärtige Amt 
im Hause der Madame Jessé einquartiert. Lothar Bucher hatte 
eine stattliche Wohnung auf der Avenue de Saint Cloud Nr. 25 
(später 85)1 bezogen, Keudell und die Chiffreurs waren in Häusern 
untergebracht, die etwas weiter oben als das unsre auf der Rue 
de Provence stehen, Graf Hatzfeldt schräg gegenüber. Mehrmals 
war übrigens davon die Rede, den Kanzler umzuquartieren und ihm 
ein geräumigeres und eleganter ausgestattetes Haus zur Verfügung 
zu stellen. Indes unterblieb die Sache, vielleicht, weil er selbst 
das Bedürfnis nach einer solchen Anderung nicht stark empfand, 
vielleicht auch, weil er die Stille liebte, die in der verhältnismäßig 
einsamen Rue de Provence herrschte. « 
Diese Stille und Ruhe war jedoch am Tage nicht so idyllischer 
Art, wie manche Zeitungskorrespondenten sie damals schilderten. 
Ich denke dabei nicht an die Trommeln und Pfeifen ab= und heran- 
  
!1 Poschinger, Tischgespräche und Interviews II, 50.
	        
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