Full text: Tagebuchblätter. Erster Band. (1)

300 Zehntes Kapitel 16. Oktober 
wir erst drin wären, nützen könnte. „Auch kann er nach seiner 
Rückkehr in seinen Kreisen über manches Aufklärung geben, was 
sich nicht gut schreiben läßt. Es ist übrigens komisch, daß sie 
denken, ich wünschte die Einheit Deutschlands nicht. Die Sache 
geht nur nicht recht vorwärts wegen der steten Tergiversationen 
Bayerns und Württembergs, und weil man nicht genau weiß, 
wie der König Ludwig denkt. Aus denselben Gründen wird sie, 
wenn wir einmal damit zustande kommen, das eine und das andre 
vermissen lassen.“ 
Heute morgen begegnete ich auf der Avenue de St. Cloud 
dem in Majorsuniform daherkommenden Borck, der mir sagte, 
daß Soissons gefallen sei, und daß das Bombardement von Paris 
am 28. beginnen werde. Der Belagerungspark wäre größtenteils 
schon da, und in drei Tagen hoffte man (das ist wohl er) sie 
zusammenzuschießen. Der dicke Herr denkt, daß wir spätestens 
zum 1. Dezember wieder in Berlin sein werden. Er berichtete auch, 
daß der Fürstenkongreß in Versailles ernstlich in Aussicht ge— 
nommen sei, und daß man Trianon für den König von Bayern 
in Stand setze. 
Man erfährt, daß in Paris Uneinigkeit herrscht, die Roten 
unter Blanqui und Flourens wollen die blauen Republikaner nicht 
am Ruder sehen, sie greifen sie mit Gewalt in ihren Blättern an, 
und am 9. hat vor dem Stadthause die Menge Vive la Communel 
geschrieen. Wie man hört, hat Seebach, der einmal sächsischer Ge- 
sandter in Paris war, und der mit Leflö und Trochu befreundet 
ist, die Absicht, dem Kanzler seine Beihilfe zu einer Verständigung 
mit den Parisern anzutragen. 
Beim Kaffee spielte Keudell dem Minister auf dem Pianino 
des Salons sanfte Phantasien vor — ich dachte dabei an David 
vor König Saul, wobei mir aber der Gedanke an eine Nachfolger- 
schaft viel ferner blieb als andern guten Leuten. Keudell sagte mir 
nachher auf meine Frage, ob der Chef Sinn für Musik habe, ja 
wohl, obgleich er nicht selbst spiele. „Sie werden auch bemerkt 
haben — setzte er hinzu —, daß er leise mitsingt. Es ist das gut für 
seine Nerven, die hier sehr angegriffen sind."“ 
Abends erschien der Nuntius Chigi mit einem ebenfalls geistlich 
gekleideten Begleiter. Er hatte eine lange Unterredung mit dem
	        
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