22. Oktober Zehntes Kapitel 319
Während wir das Bild betrachteten, ging ein Eisenbahnzug dampfend
über den Viadukt bei den Wällen.
Auf der Hinfahrt nach Ville d'Avray sah ich Bennigsen die
Rue de Provence herabkommen, und als wir zurückkehrten, hatte
er für den Chef seine Karte abgegeben.1 Dieser speiste heute von
vier Uhr an beim König, erschien aber dann noch auf eine halbe
Stunde bei uns zum Essen. Man sprach davon, daß Metz sich
wahrscheinlich schon im Laufe der nächsten Woche ergeben werde.
Es herrsche arge Hungersnot in der Stadt und namentlich auch
Mangel an Salz. „Die Überläufer — so erzählte der Minister —
essen es löffelweise, um ihrem Blute wieder den nötigen Vor-
rat davon zuzuführen.“ Prinz Friedrich Karl will, wenn ich recht
verstand, eine Kapitulation auf die Bedingungen von Sedan und
Toul hin, der Kanzler ist aus politischen Gründen für mildere
Behandlung der Garnison, der König scheint zwischen beiden noch
zu schwanken.
Dem Maire von Versailles hat der Chef gestern gesagt: „Keine
Wahlen, kein Friede. Aber die Herren in Paris wollen davon
nichts hören. Die amerikanischen Generale, die deswegen drin waren,
sagten mir, 's wäre nichts mit ihnen anzufangen. Nur Trochu
hätte gesagt, sie wären noch nicht so weit, daß sie unterhandeln
müßten, die andern hätten davon überhaupt nichts wissen wollen,
nicht einmal von einer Befragung des Landes. — Ich sagte ihm
zuletzt, es werde uns nichts übrig bleiben, als uns mit Napoleon
zu verständigen und ihnen diesen wieder aufzunötigen. Er meinte,
das würden wir nicht thun, das wäre die ärgste Beleidigung. Ich
erwiderte ihm, es läge ja aber im Interesse des Siegers, den Be-
siegten einer Gewalt zu überlassen, die sich nur auf die Soldaten
stützen könnte; denn dann würde man nicht an auswärtige Kriege
denken können. Ich riet ihm schließlich, sich nicht dem Irrtum zu
überlassen, Napoleon habe keine Wurzeln im Lande. Er habe die
Armee für sich. Boyer habe mit mir im Namen des Kaisers Na-
1 Bismarck hatte Bennigsen, Friedenthal und von Blanckenburg als Ver-
trauensmänner ihrer Parteien nach Versailles berufen, um durch sie auf die An-
nahme der bevorstehenden Verträge mit den süddeutschen Staaten im Reichstage
zu verhandeln, Wilmowski 65, Kaiser Friedrichs Tagebuch vom 18. Oktober;
Poschinger, B. und die Parlamentarier II, 145.