Full text: Tagebuchblätter. Erster Band. (1)

478 Dreizehntes Kapitel 5. Dezember 
Verträge müssen im Laufe des Dezembers durchberaten und in allen 
Punkten gutgeheißen werden, um vom 1. Januar an in Kraft treten 
zu können. Soynf#t bleibt alles im Ungewissen. Andert sie die Ver- 
tretung Norddeutschlands, so haben die süddeutschen Landtage die 
Befugnis, sie zurückzuverändern, und man weiß durchaus nicht, ob 
sie sich dieser Befugnis nicht bedienen werden. Dann aber kann 
die Nation noch geraume Zeit auf die politische Einheit warten. 
(„Zehn Jahre vielleicht — hatte der Chef gesagt — und interim 
aliquid fit.“) Auch der Friedensschluß wird dann nicht das sein 
können, was wir wollen. Die Verträge mögen lückenhaft sein, das 
kann sich aber später allmählich durch den Reichstag im Einklange 
mit dem Bundesrat und durch den Druck der öffentlichen Meinung, 
der nationalen Gesinnung im Volke bessern. Eile hat es damit nicht. 
Fehlt dieser Druck, so ist die jetzige Gestaltung der deutschen Dinge 
ja offenbar der Wunsch der Mehrheit in der deutschen Nation. Die 
Nationalgesinnten in Versailles sind über die Berliner Stimmung 
in dieser Sache sehr besorgt und beunruhigt, indes findet man einigen 
Trost in dem Umstande, daß die Volkszeitung gegen die Uberein- 
kunft mit Bayern polemisiert; denn man ist nachgerade gewohnt, zu 
bemerken, daß sich alle Leute von politischem Einsehen in der Regel 
von dem abwenden, was dieses Blatt lobt und empfiehlt, und 
umgekehrt, daß sie sich dem zuneigen, was es tadelt und wovor 
es warnt. 
Um drei Uhr mit Bucher spazieren gegangen nach den Wald- 
höhen im Süden der Stadt, wo man diese in ihrer ganzen Aus- 
dehnung überblickt. Bucher wiederholt mit Bestimmtheit, daß „Leute 
der Art, die man die Gesellschaft zu nennen pflegt,“ in Keudell den 
künftigen Bundeskanzler sehen. Man habe es ihm, Bucher, einmal 
sehr übel genommen, als er über solche Vermutungen gelächelt hatte. 
Daß Keudell sich selbst so hoch taxiere, wolle er nicht behaupten. 
Kurz vor dem Diner telegraphiere ich nach einer beim Chef 
eingegangnen Meldung, daß Orleans vergangne Nacht von den 
deutschen Truppen besetzt worden ist. Um dieselbe Zeit kommt 
Löwinsohn und macht mir die Mitteilung, daß Bamberg ihm gesagt 
habe, auf Befehl des Bundeskanzlers habe er, Löwinsohn, die Re- 
daktion des Moniteur Officiel an ihn, Bamberg, zu übergeben; er 
stehe in Verdacht, mit den Parisern Verbindungen zu unterhalten.
	        
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