Full text: Tagebuchblätter. Erster Band. (1)

570 Fünfzehntes Kapitel 23. Dezember 
mütiger, als man gewöhnlich glaubt, und viel weniger der kluge 
Kopf, für den man ihn gehalten hat.“ 
„Das ist ja — warf Lehndorff ein — wie mit dem, was 
einer vom ersten Napoleon geurteilt hat: »eine gute Haut, aber ein 
Dummkopf.«“ 
„Nein — erwiderte der Chef — im Ernst, er ist trotz dem, 
was man über den Staatsstreich denken mag, wirklich gutmütig, 
gefühlvoll, ja sentimental, und mit seiner Intelligenz ist es nicht 
weit her, auch mit seinem Wissen nicht. Besonders schlecht ists mit ihm 
in der Geographie, obwohl er in Deutschland erzogen worden und 
auf die Schule gegangen ist, und er lebt in allerhand phantastischen 
Vorstellungen.“ — „Im Jurli ist er drei Tage umhergetaumelt, 
ohne zu einem Entschlusse zu kommen, und noch jetzt weiß ich nicht, 
was er will. Seine Kenntnisse sind der Art, daß er bei uns 
nicht einmal das Referendarexamen machen könnte." — „Man 
hat mir das nicht glauben wollen, aber ich habe das schon vor 
langer Zeit ausgesprochen. 1854 und 1855 sagte ich es schon 
dem Könige. Er hat gar keinen Begriff davon, wie es bei uns 
steht. Als ich Minister geworden war, hatte ich eine Unter- 
redung mit ihm in Paris.? Da meinte er, das würde wohl 
nicht lange dauern, es würde einen Aufstand geben in Berlin 
und Revolution im ganzen Lande, und bei einem Plebiszit hätte 
der König alle gegen sich. — Ich sagte ihm damals, das Volk 
baute bei uns keine Barrikaden, Revolutionen machten in Preußen 
nur die Könige. Wenn der König die Spannung, die freilich vor- 
handen wäre, nur drei bis vier Jahre aushielte — die Abwendung 
des Publikums von ihm wäre allerdings unangenehm und unbe- 
quem —, so hätte er gewonnen Spiel. Wenn er nicht müde würde 
und mich nicht im Stiche ließe, würde ich nicht fallen. Und wenn 
man das Volk anriefe und abstimmen ließe, so hätte er schon jetzt 
neun Zehnteile für sich.“ — „Der Kaiser hat damals über mich 
geäußert: Ce M'est pas un homme sérieux, woran ich ihn im 
Weberhause bei Donchery natürlich nicht erinnerte."“ 
Graf Lehndorff fragte, ob man wohl etwas von der Ver- 
  
1 G. u. E. I, 155. 
2 Ende Oktober 1862. Tischgespräche I, 14. 118.
	        
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