Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

180 Zwanzigstes Kapitel 
eine umfassendere Thätigkeit entfaltete, war schon aus Gründen der 
Asthetik und des Dekorums, vor allem aber aus solchen, die der 
Raummangel an die Hand gab, dringend zu wünschen, daß für 
Besseres gesorgt würde, und wenn das erst spät geschah, so erklärt 
sich das Zögern wohl zum guten Teil aus der Genügsamkeit des 
Fürsten von Bismarck, der, wie wir gesehen haben, auch im Felde 
mit knapper und seinem Range wenig entsprechender Unterkunft 
vorlieb nahm. 
Das ehemalige Hotel des Reichskanzlers ist in der ersten Hälfte 
des vorigen Jahrhunderts erbaut worden und war, als der Fiskus 
es 1819 ankaufte, im Besitze des damaligen russischen Gesandten 
Alopäus. Es steht nicht fern vom Wilhelmsplatz, dem Palais des 
Prinzen Karl schräg gegenüber. Auf der einen Seite hat es neben 
sich das bis vor etwa vier Jahren dem Fürsten Radziwill gehörige, 
dann in den Besitz des Deutschen Reichs übergegangne und für 
Bismarck und die Reichskanzlei umgestaltete Palais, auf der andern 
die ehemals Deckersche Druckerei, die seit einiger Zeit gleichfalls 
Eigentum des Reichs ist. Hinter ihm streckt sich ein tiefer und 
ziemlich breiter Garten hin, der bis an die Königgrätzer Straße 
reicht — das einzige Schöne am Ganzen. Von der Front gesehen 
ist Wilhelmstraße sechsundsiebzig ein mäßig großes, graugetünchtes 
Haus, das im Erdgeschoß links ein graubraunes, mit geschnitztem 
Laubwerk verziertes Einfahrtsthor, rechts von da elf, im ersten Stock 
dreizehn Fenster und darüber einen kleinen, flach aus dem Ziegel- 
dach hervortretenden Giebel hat, unter dem die Linien von vier sich 
wenig von ihrer Umgebung abhebenden Pilastern mit korinthischen 
Kapitälen zwischen den Fenstern der Mitte herablaufen. Schmuck 
und Gliederung andrer Art fehlen. Wer Staffage zu dem Bilde 
braucht, kann sie sich in einigen Kanzleidienern mit ledernen Akten- 
mappen, in Leverström, dem „schwarzen Reiter,“ der als Beförderer 
eiliger Nachrichten, Anfragen und Einladungen fungiert, oder einem 
und dem andern Minister oder Gesandten, der aus seinem Wagen 
gestiegen ist, um dem Kanzler einen Besuch zu machen, nach Ge- 
schmack und Belieben hinzudenken. 
Ziehen wir die Klingel der verschlossenen Hausthür, so wird 
diese sich aufthun, um sich unverweilt wieder hinter uns zu schließen. 
Wir sind in eine Durchfahrt getreten, die sich nach hinten auf einen
	        
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