Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

184 Zwanzigstes Kapitel 
Ich übertreibe? Ich übertreibe nicht. Der Mensch gewöhnt 
sich an alles auf Erden, selbst ans Arsenikessen, und so auch an 
die giftschwangere Luft mit Menschen überfüllter Räume; aber an— 
genehm wird diese dadurch für den, der lange Abende in ihr atmen 
muß, keineswegs. Sie wird das ebenso wenig wie der andre Übel— 
stand dieser Lokalitäten, an den sich der eine und der andre not— 
gedrungen wohl auch gewöhnt, der nämlich, daß die Arbeitenden 
bei der Nähe und der Kleinheit der Nachbarzimmer, die zuweilen 
nur eine mit Tapeten überkleidete Bretterwand von einander trennt, 
durch jedes nicht ganz leise geführte Gespräch im Gange ihrer Ge— 
danken unterbrochen werden, und daß es — ich rede von der oben 
angegebnen Zeit und den Notizen ihrer Tagebuchblätter wie von 
der Gegenwart — unter den hier beschäftigten Herren einige Leute 
giebt, die nicht leise sprechen zu können scheinen. 
Die Möbel, unter denen sich noch einige Fossile aus der Alo— 
päusschen Urperiode befinden, gehören ihrem Material nach allen 
Holzarten unsrer Wälder und Gärten, ihrer Form nach allen mög— 
lichen Moden und Stilen des Tischlergewerbes bis ins vorige Jahr— 
hundert hinein an: gelbes Pflaumenbaum-, dunkles Mahagoni-, 
gewöhnliches Fichtenholz, lackierte, polierte und bloß behobelte 
Arbeit, Schreibtische, Stehpulte, Zylinderbüreaus, Aktenschränke, 
offne Repositorien für Bücher, Zeitungen und Papier, in den letzten 
Kammern des Labyrinths auch Sofas, fast immer eins anders ge- 
staltet und überzogen als das vorige, folgen einander an den Wänden 
in bunter Reihe. Mehrere davon sind ehrwürdig durch ihr Alter- 
tum, und ein Pult, auf dessen anderthalb Zoll starker Platte 
jemand, ich glaube dreißig Jahre lang, immer an derselben Stelle 
seinen Bleistift gespitzt hat, bis das Federmesser endlich auf dem 
Grunde der solchergestalt entstandnen Grube ins Leere darunter 
hindurchfuhr — ein anmutiger Anklang an das Sprichwort: Steter 
Tropf höhlt den Stein —, möchte noch nicht der betagteste unter 
diesen greisen Zeugen der vor Zeiten hier geübten Thätigkeit sein. 
Man kann mancherlei Gedanken vor ihnen haben, ernste und heitere, 
einen aber vor ihnen allen. Mir wenigstens begegnete es wieder- 
holt, daß mir vor ihnen die Frage in den Sinn kam, wie ver- 
drießlich die alten Möbel gewesen sein mögen, als nach Jahren und 
Jahrzehnten wenig fruchtbarer, aber bequemer Routine bei und auf
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.