Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

222 Einundzwanzigstes Kapitel 14. April 1871 
scheidendsten Augenblicken stets geflissentlich vermieden und auf 
Privatangelegenheiten abgelenkt hat, hat er neulich bei einem Hof— 
konzert die innern Angelegenheiten des Deutschen Reichs zum Gegen— 
stand eines Gesprächs mit ihm gemacht und dabei seine hohe Freude 
und Bewunderung über die erste Kammerrede des Kanzlers gegen 
die Ultramontanen ausgedrückt. Gestern, so fährt der Bericht fort, 
habe der Großherzog bei einem Diner desselben Themas gedacht 
und sich wieder sehr lobend über den Chef ausgesprochen, dem er 
bei seiner letzten Anwesenheit in Berlin persönlich habe danken wollen, 
ihn aber nicht zu Hause getroffen habe. „Das Eis ist — so 
schließt die Korrespondenz — nun hoffentlich gebrochen, und unsre 
Beziehungen zu dem Großherzog werden sich nun wohl besser ge— 
stalten.“ 
Wahrscheinlich an einem der unmittelbar vorhergehenden oder 
folgenden Tage des April gab mir der Chef die nachstehenden Ge— 
danken zu einem Artikel für die Presse an: „Als die Zentrums- 
partei unter wesentlicher Mitwirkung Savignys gestiftet wurde, war 
man im Publikum zu der Annahme geneigt, daß er die Regierung, 
der er bis 1866 als Beamter angehört hatte, auch ferner unter- 
stützen wolle. Dabei wurde aber ein Wendepunkt übersehen, der 
in seiner Haltung eingetreten war. Nach dem ersten Entwurfe der 
Bundesverfassung war ihm die Stelle eines Bundeskanzlers zugedacht, 
die freilich damals nur ungefähr die Bedeutung der eines Präsidial- 
gesandten haben sollte, wie ihn Osterreich einst in Frankfurt gehabt 
hatte. Als durch ein Amendement des Reichtags der Paragraph, 
wonach der Bundeskanzler verantwortlich sein sollte, in die Verfassung 
kam, wurde dessen Stellung eine ganz andre. Er mußte der Leiter 
der Reichsgeschäfte und der Reichspolitik werden, und diese Stellung 
dem Herrn von Savigny anzuweisen hat nie in der Absicht des 
Königs gelegen. Das war aber eine starke Enttäuschung für Savigny, 
und mit dieser Enttäuschung hingen für ihn noch äußere Unbequem- 
lichkeiten zusammen, namentlich die Notwendigkeit, die von ihm 
bereits bezogne und von ihm recht behaglich eingerichtete Wohnung 
im Bundeskanzleramte wieder zu räumen."“ 
14. April. Der Chef wünscht, daß die im Avenir de Loire 
et Cher und in der Revne des Deux Mondes enthaltnen „Räuber- 
geschichten," nach denen wir im Hause der Madame Jessé Silber-
	        
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