Mai, Juni 1871 Einundzwanzigstes Kapitel 255
zu rechtfertigen scheinen, so möge er sich erinnern, daß ein ver—
bitterter schroffer Ton zuerst vom Reichstag und zwar gerade von
Stimmen der Partei angeschlagen wurde, die sich vorzugsweise und
im allgemeinen nicht mit Unrecht Besonnenheit und Patriotismus
nachrühmen läßt. Wir wenigstens vermögen in den Ausfällen, in
denen sich der Abgeordnete Bamberger in der letzten Debatte über
die Postbeamten gefiel (° Hunde sind wir ja doch!e — oder »du
bekommst die Knutes waren einige von den Veilchen dieses Mai-
sträußchens, das der Regierung geboten wurde), kein Beispiel der
Besonnenheit und des Patriotismus zu erblicken, und in der bei der-
selben Gelegenheit vorgefallnen rednerischen Leistung des Abgeord-
neten von Hoverbeck will uns das eben so wenig gelingen.“
31. Mai. Heute auf Weisung des Kanzlers an Braß ge-
schrieben und zwar wegen des Leitartikels in Nummer 124 der
Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, der dem Fürsten als zu heftiges
Vorgehen gegen die Nationalliberalen auffällt. Ich empfehle mehr
Milde und Vornehmheit. Braß antwortet entschuldigend, er habe
jenen Aufsatz aus offiziöser Hand bekommen und sitze zwischen Thür
und Angel — was sehr glaublich ist.
2. Juni. Nach Wien soll heute ein Brief abgehen, wonach
Favre in Frankfurt geäußert hat, Beust habe bei der Versailler
Regierung eine Anregung zu Gunsten des Papstes gegeben, und
zwar in einer Weise, daß man daraus geschlossen habe, es sei
dies in Übereinstimmung mit den Absichten des Kaisers Wilhelm
geschehen, weil dabei auf Andeutungen des Grafen Bray Bezug
genommen worden und man gemeint habe, Bayern werde in
solcher Frage keine Politik treiben, die von der des Deutschen
Reichs abwiche. S. wird dann ersucht, sich vorsichtig zu erkundigen,
ob der bayrische Minister des Auswärtigen in dieser Richtung
Schritte gethan habe und welche. Über die persönliche Auffassung
der Sache bei Bray sei man allerdings nicht im Zweifel; man
wünsche nur, daß, wenn er sich in Wien wirklich in jenem Sinne
bemüht habe, dies in einer Form geschehen sein möchte, bei der
der persönliche und individuelle Charakter seiner Schritte nicht ver-
kannt werden könnte. Das Auswärtige Amt des Deutschen Reichs
sei bei diesem Schritte nicht beteiligt, „und wir haben uns — so
schließt die Zuschrift — bis jetzt noch jeder Außerung über die