256 Einundzwanzigstes Kapitel 5. Juni 1871
römische Frage und die Stellung, die das Deutsche Reich zu der—
selben einnimmt, enthalten.“
5. Juni. Einen Artikel, der aus Darmstadt datiert ist, für
die Kölnische Zeitung gemacht, zu dem mir der Chef die Unter—
lagen gab, und der folgendermaßen lautet: „Wie sehr die neuen
Minister bei uns sich auch den Umständen fügen mögen, so ist es
doch kein Geheimnis, daß in den Sphären über ihnen die üble
Stimmung gegen das neue Deutschland fortdauert, und daß man
hier vom Alten so viel zu konservieren sucht, als irgend möglich
ist, ohne viel Anstoß zu geben. Was an maßgebender Stelle in
dieser Richtung nicht aus eignem Antriebe geschieht, wird durch den
sehr bedeutenden Einfluß des Prinzen Alexander bewirkt, 1 welcher
nach wie vor mit jenen Kreisen in Wien in Verbindung steht, die
in den deutschen Dingen nichts gelernt und nichts vergessen haben,
und welcher nach wie vor eine Art Mitregentschaft ausübt, die
sich nach verschiednen Seiten hin fühlbar macht. Ein Beispiel
dafür ist die Gesandtschaft am Wiener Hofe, die schon längst,
namentlich aber nach Errichtung des Deutschen Reichs durch die
Versailler Verträge, alle Bedeutung verloren hat. Wie man aus
guter Quelle hört, hätte der gegenwärtige Träger derselben — be-
kanntlich Heinrich von Gagern, weiland Präsident des Frankfurter
Parlaments — schon vor mehreren Monaten um Enthebung von
seinem Posten gebeten und zugleich die gänzliche Einziehung des-
selben befürwortet, aber abschlägige Antwort erhalten. Jetzt soll
er sein Gesuch, respektive seine Vorstellung bei dem neuen Minister
der auswärtigen Angelegenheiten wiederholt haben, und wie man
wissen will, wäre Herr von Lindelof nicht abgeneigt, darauf einzu-
gehen, zumal kaum Aussicht ist, daß die Landesvertretung das
Gehalt für einen jetzt rein ornamental gewordnen Posten als eine
notwendige Ausgabe ansehen und weiter bewilligen wird. An
höchster Stelle aber ist man, offenbar auf Grund von Vorstellungen
des Prinzen, andrer Meinung, und wenn Gagern die erbetne
Entlassung bekommt, so wird er einen Nachfolger erhalten. Wie man
wissen will, wäre der intime Freund des Prinzen, von Biegeleben,
1 Im Kriege von 1866 Oberbefehlshaber des VIII. Bundesarmeekorps,
früher in österreichischen Diensten.