5. Juli 1871 Einundzwanzigstes Kapitel 271
fällt unsers Erachtens jede moralische Verpflichtung hinweg, in
Sachen der Kontribution Nachsicht zu üben.“
5. Juli. Heute mittag kam Keudell mit einem Artikel der
Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom Chef herunter, der vom 2.
datiert war und mit den Worten: „Der Telegraph“ anfing, und
neben den der Fürst geschrieben hatte: „Dieser Artikel steht mit den
gegebnen Weisungen im Widerspruche. Min. des Innern wegen
Verwarnung der Redaktion, resp. Entziehung jeder Begünstigung
zu schreiben. Strenge tägliche Überwachung nötig.“ Keudell sagte,
der Kanzler sei wütend auf Braß. Er bat mich dann, ihm ein
die Sache betreffendes Schreiben an den Minister des Innern zu
machen. Ich schrieb ihm folgendes auf: „Im speziellen Auftrage
des Herrn Reichskanzlers erlaube ich mir, Ew. Exzellenz auf den
in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 2. Juli enthaltenen
Artikel aufmerksam zu machen, der mit »Der Telegraph überbrachte
uns« beginnt. Derselbe steht mit den der Redaktion wiederholt
mündlich und schriftlich erteilten Weisungen, die durch ähnliche Aus—
fälle gegen die derzeitige französische Regierung hervorgerufen wurden,
entschieden im Widerspruche, und diese immer wiederkehrende Polemik
erweckt den Verdacht, daß die Redaktion dabei auswärtigen Ein—
flüssen folgt, welche es in ihrem Interesse finden, uns mit Frank—
reich zu entzweien. Der Herr Reichskanzler giebt daher Ew. Ex—
zellenz zu hochgeneigter Erwägung, ob es nicht an der Zeit sei, ent—
weder mit strenger Verwarnung der Redaktion oder sofort mit Ent-
ziehung jeder Vergünstigung gegen das Blatt vorzugehen und letztere
einem andern zuzuwenden, welches bessere Bürgschaft für korrektes
Verhalten giebt."
Der Aufsatz vom 2. Juli war der letzte, den ich während
meiner Anstellung im Auswärtigen Amte nach mündlicher Infor-
mation vom Kanzler schrieb. Denn von jetzt an ging der unmittel-
bare Verkehr mit diesem, dessen ich mich bisher erfreut hatte, auf den
neuen „Preßrat“ Aegidi über, der schon vor einigen Wochen ein-
getroffen war, aber erst acht oder zehn Tagen nach seiner Ankunft
vom Fürsten empfangen wurde und auch dann nicht sofort Be-
schäftigung bekam.
Was den Wechsel veranlaßt hatte, blieb mir vorderhand
unbekannt, und auch Bucher wußte sich ihn zunächst nicht zu er-