284 Zweiundzwanzigstes Kapitel Sept., Okt. 1871
29. September. Der bayrische Minister H. hat am 26. d. M.
zu W. gesagt, man solle doch daran denken, die obligatorische
Zivilehe einzuführen. Nach dem Tridentinum liege das sakramentale
Element der Ehe darin, daß die Brautleute vor dem Priester und
Zeugen erklärten, fortan Mann und Frau sein zu wollen. Wie
aber, wenn es dem jetzt unfehlbar gewordnen Papst beikommen
sollte, dieses Element in die Trauung durch den Priester zu ver-
legen? Auf die Frage, ob er wisse, daß etwas derartiges in Rom
beabsichtigt werde, hat er geantwortet, nein, aber es liege so etwas
in der Luft. — Professor Schulte! hat nach W. als tief in die ehe-
maligen österreichischen Konkordatsverhandlungen eingeweihter Mann
geäußert, der Kaiser Franz Joseph werde leicht in die Aufhebung
jedes Ordens in Osterreich willigen, nur gewiß nicht in die des
Jesuitenordens.
7. Oktober. Heute mittag, als Dörr zu mir zur Infor-
mation gekommen war, befand sich Aegidi mit einem gewissen W.
in dem kleinen Gelaß am Fenster des Vorzimmers. Als ich hinaus
trat, sagte Dörr, der W. hinter der halben Wand sprechen hörte:
„Um Gottes willen, nehmen Sie sich vor dem in acht, ich höre
eben seine Stimme. Es ist W., ein ganz schlechter Kerl, der sogar
Ungeziefer hat, und den wir schon bei uns (in Hahns Litterarischem
Büreau, das doch sonst nicht gerade sehr wählerisch ist) fortgejagt
haben, weil er unbefugt unfre Nachrichten zum Telegraphen-Wolff
getragen und andre faule Geschichten getrieben hatte.“ Ich rief
sogleich Aegidi heraus und ließ Dörr ihm seine Mitteilung wieder-
holen. Er fertigte darauf diese „litterarische Kapazität“ kurz ab
und sagte mir dann drin an meinem Pulte, daß er mir für Ver-
mittlung der Warnung sehr dankbar sei; aber er habe sich den
Lump auf Veranlassung von — kommen lassen.
Später kam Aegidi vom Chef herunter und brachte dessen
Weisung mit, die österreichischen Verhältnisse von jetzt an in der
Presse verschieden zu behandeln. In den Blättern, die für offiziös
oder auch nur für entfernt mit uns in Verbindung stehend gelten,
soll gegen das Ministerium Hohenwart die äußerste Rücksicht geübt,
1 Lehrer des Kirchenrechts, Vertrauter des Kardinal-Erzbischofs Rauscher
von Wien, der das Konkordat am 18. August 1855 abschloß, später altkatholisch.