Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

294 Zweiundzwanzigstes Kapitel 9. Dezember 1871 
an der Entwicklung der Dinge sei ein durchaus egoistisches, wir 
wären nur darauf bedacht, de tirer notre épingle du jeu. Hier— 
nach könne er sich selbst sagen, wie wir zu der innern, übrigens 
noch sehr unreifen Frage stünden. Herr von Calonne war hiermit 
nicht sehr zufrieden und meinte, wir stünden am Vorabend großer 
Krisen, Frankreich werde sich in seine Bestandteile auflösen, Thiers 
einen Revolutionskrieg machen oder durch seine Politik vorbereiten, 
wenn nicht bald ein Definitivum und zwar die traditionelle Monarchie 
hergestellt würde. 
„Ich habe die Außerungen des Grafen Beust und die Er- 
öffnungen des Herrn von Calonne, den ich übrigens bis dahin 
nicht empfangen wollte, nicht vorenthalten zu dürfen geglaubt. 
Es ist nicht unmöglich, daß Herr Thiers sich gegen den Grafen 
Beust anders geäußert hat als gegen mich. Herr von Calonne 
aber ist, was auch seine persönliche Bedeutung sein mag, jedenfalls 
ein Vertrauter und ein Organ der öffentlichen Meinung in den 
monarchischen Kreisen. Die Auffassung der beiden Herren wird durch 
die Thatsache unterstützt, daß Herr Thiers eine größere Armee 
aufstellt, als der Kaiser sie hatte. Casimir Perier versichert mir 
zwar, daß die Regierung dieser starken Armee nicht entbehren könne, 
wenn sie die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten wolle. Aber 
selbst wenn dem so ist, wer bürgt dafür, daß eine Gendarmerie 
von 500 000 Mann und mehr nicht plötzlich zur Feldarmee wird, 
wenn die Umstände es gestatten? 
„Alles dies wohl erwogen, könnte ich einigen Grund zu der 
Befürchtung haben, mich über die Intentionen des Präsidenten der 
Republik einer zu großen Vertrauensseligkeit hingegeben zu haben. 
Trotz alledem finde ich aber keine Veranlassung, an meinen bis- 
herigen Appreziationen der Lage etwas zu ändern. Selbst wenn 
Herr Thiers sich mit Kombinationen tragen sollte, die das Be- 
dürfnis nach Rache ihm eingiebt, selbst wenn er den Hintergedanken 
hegte, daß die große Armee eventuell zu andern Unternehmungen 
als zum Kriege gegen die Internationale benutzt werden könnte, 
so würden doch alle diese Phantasmagorien eine bestimmte Gestalt 
erst im Jahre 1874 annehmen können. Für uns aber sowohl wie 
für Herrn Thiers kommt es vor der Hand nur auf die nächsten 
sechs Monate an, und für diese sechs Monate, ja für seine Lebens-
	        
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