Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

25. Dezember 1871 Zweiundzwanzigstes Kapitel 297 
man in München machen. Der hier akkreditierte bayrische Geschäfts— 
träger Rudhard giebt durch seine sehr bescheidne und korrekte Haltung 
zu gar keinen Klagen Anlaß. Aber die Thatsache, daß er sich mit mir 
gleichzeitig im Vorzimmer des Herrn von Remusat befindet und 
selbständig geschäftlich mit ihm verkehrt, reicht aus, um falschen 
Vorstellungen Eingang zu verschaffen. Wie sehr die Franzosen auf 
Spaltungen im Deutschen Reiche hoffen, zeigt die Aufmerksamkeit, 
mit der sie die Symptome partikularistischer Bestrebungen in den 
süddeutschen Kammern beobachten. Die Franzosen können nicht mit 
dem Maßstabe andrer Nationen gemessen werden. Sie entbehren 
das Augenmaß und legen Wert auf Dinge, die im Grunde nichts 
bedeuten. In einem Narrenhause kann ein Aufstand durch die unbe— 
deutendsten Dinge herbeigeführt werden, und wenn er auch nieder— 
geschlagen wird, kann er doch vorher vielen rechtschaffnen Leuten das 
Leben gekostet haben.“ 
Abends. Bericht aus Bern am 14. d. M. gelesen, der sich 
mit den Eindrücken beschäftigt, die Oberst (Wilhelm) Rüstow (der be— 
kannte Militärschriftsteller und rote Demokrat) bei seiner neulichen An— 
wesenheit in Paris von den dortigen Zuständen empfangen und einem 
intimen Freunde mitgeteilt hat. Er will auch mit dem französischen 
Kriegsminister und verschiednen höhern Offizieren konferiert haben 
und hat sich etwa folgendermaßen ausgesprochen: Die Revanche, 
und — so absurd dies klingen mag — eine baldige, ist beschlossene 
Sache. Nicht allein die Armee, sondern alle Klassen und Schichten 
der Bevölkerung sind von diesem Gedanken durchdrungen und von 
diesem Gefühle beseelt. Das Jahr 1873 oder 1874 wird dabei 
mit in die Berechnung gezogen. Den Zustand der Armee, von der 
der Referent fünf Korps im Detail gesehen hat, schildert er als 
schlechter, denn er ihn je gekannt hat.! Trunksucht und Indisziplin 
sowie sozialistische Tendenzen seien an der Tagesordnung und dabei 
andrerseits bonapartistische Sympathien weitverbreiteter, als dies 
logischerweise irgend zu erwarten stünde. Armee und Bevölkerung 
begegnen sich in gleicher und gemeinsamer Unzufriedenheit gegen 
Thiers und das gegenwärtige Gouvernement. R. meint, dieses 
Urteil scheine insofern nicht ohne Interesse, als Rüstow, „dieser 
  
1 Rüstow war ein guter Kenner der französischen Armee vor 1870.
	        
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