Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

348 Zweiundzwanzigstes Kapitel 14. April 1872 
heit in der Hauptstadt unbedingt erfordre. Andre wollten wissen, 
die Drohung mit der Ausweisung des Jesuitenordens aus Deutsch— 
land habe in Rom derart abschreckend gewirkt, daß der heilige Vater 
selber sich erboten habe, dem Episkopat Vorsicht und Ruhe zu em— 
pfehlen, wenn es dafür von jenem Vorsatze absehen wolle — und 
so sei man zu Verhandlungen über einen modus vivendi gelangt, 
die alle Aussicht auf Erfolg hätten. Da man weiß, mit wie schwerem 
Herzen sich Wilhelm zu dieser Campagne entschlossen habe, und wie 
unangenehm Bismarck mit den konservativen Junkern und Pietisten ge- 
wesen sei, mag das ominöse Schweigen der Thronrede über diesen Punkt 
immerhin als eine Bestätigung obiger Gerüchte gedeutet werden. 
„Aber nebenbei gewinnt noch eine andre dunkle Sage von Tag 
zu Tag mehr Bestimmtheit und Konsistenz, sodaß sie nicht länger 
mehr ignoriert werden darf. Ubereinstimmend stellen, wie wir leider 
hinzufügen müssen, authentische Berichte die Kaiserin Augusta 
als den Mittelpunkt jener Koalition dar, die Bismarck in den schon 
schlagfertig erhobnen Arm fallen will. Wir geben zu, die Sache 
klingt lächerlich unwahrscheinlich; allein angesichts der Briefe, die 
die Thatsache als völlig authentisch hinstellen, bleibt uns gar nichts 
andres übrig, als von jeder Ableugnung, die nur auf eine Selbst- 
täuschung hinauslaufen würde, zu abstrahieren und uns mit dem 
Faktum selber wohl oder übel abzufinden, indem wir es erklären 
und seine Folgen abzuwägen versuchen. Zur Erklärung nun wissen 
wir, ehrlich gestanden, nur zwei sehr banale Formeln, die aber trotz- 
dem ausreichen dürften: das sonst bei energischen Frauen bei zu- 
nehmendem Alter — die Kaiserin hat bald das einundsechzigste 
Lebensjahr vollendet — so leicht hervortretende seelische Bedürfnis 
der Frömmigkeit und dann die gleichfalls mit den Jahren steigende 
Neigung derselben, eine politische Rolle zu spielen. Wie oft und 
leicht sich dann beide Tendenzen miteinander verquicken, und wie 
dadurch gerade hoch= und höchststehende Damen zu den bequemsten 
und wirksamsten Gehilfinnen pietistischer Pläne werden, dafür wird 
es doch nicht erst nötig sein, besondre Beispiele aus der Geschichte 
zu bringen. Hohen und ehrgeizigen Sinnes von jeher und dennoch 
jedes bedeutenden politischen Einflusses auf ihren Gemahl bar, 
mußte die Kaiserin die Hebel, die sie zu diesem Behufe ansetzen 
sollte, anderswo suchen.
	        
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