Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

8. Sept. 1872 Zweiundzwanzigstes Kapitel 377 
matendiner zu Ehren der Herren von der Zunft, die den russischen 
und den österreichischen Kaiser bei deren Zusammenkunft mit dem 
unsern begleiten. Von unsern Leuten haben von Thile, von Keudell, 
von Bülow, Philippsborn und Bucher an dem Essen teilgenommen. 
Bucher bemerkte abends, wo wir eine längere Unterredung unter 
vier Augen hatten: „Selten habe ich eine solche Kollektion von 
seltsamen Physiognomien beisammen gesehen wie diese Russen. Der 
Hamburger ist der reine Börsenjude. Der Jomini sieht aus wie ein 
Professor — wissen Sie, es giebt Professoren, die sich bei den Damen 
angenehm zu machen verstehen. Auch unter den Osterreichern waren 
sehr bedenkliche Gesichter. Ich sagte das später dem Sohne, dem 
Herbert (so verstand ich, Bucher redet immer sehr leise und wenig deut- 
lich), und der meinte: „Ja, da haben Sie recht, mancher würde sich 
nicht getrauen, das laut werden zu lassen, aber es ist wirklich so." 
Wir blieben diesen Abend bis elf Uhr im Ministerium, wo ich 
noch einen Artikel für die Kölnische Zeitung machen mußte, der 
sich über die Papstwahl verbreitete und sich gegen die Behauptung 
richtete, diese Wahl habe eine welterschütternde Bedeutung. Bucher 
und ich tranken dann noch eine Flasche Roten bei Frederich, bei 
der er mir allerhand Interessantes erzählte, unter anderm, daß 
„Delponte,“ wie er Delbrück zu nennen pflegt, ihm gram sei, weil 
er glaube, daß er in der verdrießlichen Geschichte der Veröffent- 
lichung des Solmsschen Berichts über die Verhältnisse in Brasilien?) 
und der dabei dem Reichskanzleramt erteilten Nase die Hand im 
Spiele gehabt habe. Delponte habe ihn deshalb neulich beim Chef 
geschnitten. Aus den letzten in Varzin verlebten Wochen berichtete 
er, daß der Kanzler dort wenig mehr geritten habe, dagegen fleißig 
über Land gefahren sei, und zwar in einem Korbwagen ohne Federn, 
der bei den vielen über den Weg laufenden Fichtenwurzeln recht 
unangenehm stieße. Nie habe er übrigens den Fürsten so vergnügt 
gesehen als am Tage seiner silbernen Hochzeit. Früh, als er zur 
kirchlichen Feier habe gehen sollen, habe es an einem Frack für die 
  
1 6.— 11. September Bismarck-Regesten II, 52. — Vgl. Poschinger 
a. a. O. I, 81. 
7) Dieser Bericht, der sich vorzüglich auf Auswandrerverhältnisse bezog, war 
zwar durchaus wahr, seine Veröffentlichung durch das Reichskanzleramt jedoch 
inopportun, und der Fürst war über diese in hohem Grade aufgebracht.
	        
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