Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

388 Zweiundzwanzigstes Kapitel 21. Januar 1873 
dem Eindruck der Mahnung an das Herrenhaus, die Kreisordnung 
zu amendieren, die Thatsache bekannt wurde, daß unter den ob— 
waltenden Umständen der bisherige Ministerpräsident nicht mehr ge— 
neigt sei, sich als Präsident majorisieren und sich eine Politik zu— 
schreiben zu lassen, die nicht die seinige, mußte zuerst die Frage 
herantreten, was wohl am geeignetsten erscheine, die entstehende Lücke 
auszufüllen. Der Sieger im letzten parlamentarischen Kampfe, der 
schon einmal im Laufe des Jahres zu ähnlicher Stellung ausersehen 
worden war, Graf Eulenburg, mußte da naturgemäß der königlichen 
Entscheidung sehr nahe stehen. Indes es blieb keinen Augenblick 
zweifelhaft, daß unter diesem Ministerpräsidenten, der im Konseil 
soeben über den Fürsten Bismarck in der Pairsschubfrage den Sieg 
davongetragen, eine fernere Beteiligung des Ministers des Außern 
an den spezifisch preußischen Angelegenheiten nicht zu erwarten sei. 
Etwas andres war es mit dem Grafen Roon, der ebenfalls, weil 
er überstimmt worden war, seine Entlassung gegeben hatte, 1 von dem 
aber sich zu trennen dem Herzen des Monarchen überaus schwer 
fiel. Wurde er als Nachfolger ins Ministerium berufen, so kon- 
statierte diese Thatsache durchaus keine Verlängerung des Bis- 
marckschen Standpunkts in der Herrenhausreform durch den König, 
da Graf Roon und Fürst Bismarck in dieser Sache Hand in Hand 
gegangen waren. Beide Männer, seit Jahren durch persönliche Be- 
ziehungen eng miteinander verbunden, verständigten sich rasch. Graf 
Roon trotz seiner konservativen Neigungen bekannte sich seit langem 
aufrichtig zu der politischen Haltung des Reichskanzlers. Wie er 
schon seine Entschiedenheit im Kampfe mit dem Klerus bei Gelegen- 
heit der Ubergriffe des Armcebischofs Namczanowsky und der alt- 
katholischen Armeeseelsorge an den Tag gelegt, so stand er auch hier 
nicht an, das Programm des scheidenden preußischen Ministerpräsi- 
denten im Kampfe wieder Rom in allen Teilen ausnahmslos zu 
adoptieren. In der Herrenhausfrage gingen beide Staatsmänner bereits 
enggeschlossen zusammen. Die Vorlage wegen der Zivilehe mußte 
ohne näheres Eingehen zurückgelegt werden, weil man noch nicht im 
klaren war, welche Kompensation der evangelischen Geistlichkeit für 
die entfallenden Trau- und Stolgebühren anzubieten sei. Auf der 
  
1 Am 8. Dezember. Der Kaiser lehnte es am 16. Dezember ab.
	        
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