416 Dreiundzwanzigstes Kapitel 11. April 1877
eine Wendung zum bessern nehmen, die nicht in seiner Hand liegt
und kaum zu hoffen steht —, Fürst Bismarck geht nach Varzin,
weil er nicht hindern kann und nicht sehen mag, daß man sich lang—
sam anschickt, nach Kanossa zu gehen. Was sagt die öffentliche
Meinung, was sagt deren Vertretung im Reichstage dazu?“
Mittwoch, den 11. April, reiste ich von Leipzig mit dem ersten
Frühzuge nach Berlin ab, wo ich in Töpfers Hotel auf der Karl—
straße abstieg und 9½ Uhr zu Bucher ging. Auf dem Wege dahin
fühlte ich an der Ecke der Dorotheenstraße, wie jemand mir auf die
Schulter klopfte, und als ich mich umsah, war es Wollmann, der
höchlichst verwundert schien, mich hier zu finden. Er erzählte, daß
Aegidi, den ich inzwischen fast vergessen hatte, schon seit längerer
Zeit, „endlich abgemeiert“ worden sei. Schon seit etwa zwei Jahren
sei er nicht mehr zum Chef gekommen, sodaß seine Einwirkung auf
die Presse aufgehört habe. Statt dieser seien ihm die untergeord-
neten Geschäfte Hepkes, Archivsachen, Verwendung für Gelehrte und
Künstler, wissenschaftliche und Kunstinstitute, Dedikationen von
Büchern und ähnliches übertragen worden. Hierauf habe man ihm
erst „die Nova (die Lektüre der eingehenden und abgehenden De-
peschen) abgeknöpft,“ dann ihm den größten Teil der Zeitungen bis
auf die Provinzialblätter entzogen und ihm zuletzt, als auch das
ihn nicht zu freiwilligem Abgange bewogen habe, zur Disposition
gestellt, wobei man ihm die Sache mit dem Titel eines Geheimen
Legationsrats und einer Honorarprofessur weniger schmerzhaft ge-
macht habe. „Wissen Sie, es war wie mit dem Irländer, der seinem
Pintscher den Schwanz allmählich, Stückchen für Stückchen abhackte,
weil das weniger wehthut,“ sagte dieser boshafte Sekretär, dem der
„Expedierende“ noch immer nicht zu teil geworden war. Im übrigen
erfuhr ich von ihm, daß die Krisis im ersten Stock von Wilhelm-
straße sechsundsiebzig zu Ende sei, und daß der Chef bleibe und nur
einen längern Urlaub genommen habe.
Wir besahen uns darauf flüchtig die nun vollendete Sieges-
säule zwischen Kroll und Raczynski, worauf ich mich mit dem Be-
merken, einen Freund besuchen zu müssen, von W. verabschiedete und
meinen Weg zu Bucher fortsetzte. Er war wie immer liebenswürdig
und mitteilsam. Seine Meinung von der Situation war aber anders
als die Wollmannsche, d. h. nach ihm war die Krisis nur vertagt,