Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

17. Okt. 1877 Vierundzwanzigstes Kapitel 451 
Leute aus dem Unfuge prophezeiten, ist gleichermaßen Phantasie 
geblieben. Der gärende Most klärte sich trotz seines Brausens zur 
rechten Zeit, und was daraus geworden ist, weiß die Welt. 
Die alten Mythen vom „tollen Junker“ aber gehen noch heute 
im Lande um, und eine von ihnen setzte sich auf einer der Stationen 
zwischen Köslin und Schlawe in Gestalt eines derben Landmanns zu 
mir ins Coupee, der mir unter andern verschiednen hübschen Historien 
auch die erzählte, daß Bismarck in Kniephof einmal ein altes, gebrech- 
liches, windschiefes Gebäude, das ihm zuwider geworden war, statt 
es abtragen zu lassen, mit einer Kanone zusammengeschossen habe. 
Woher er nur diese Artillerie bekommen haben mag? fragt der 
kritisch angelegte Leser. Ich antworte darauf mit der Gegenfrage: 
Ob mein wackrer Bauer nicht am Ende läuten, aber nicht anschlagen 
gehört, ob die aus ihm redende Volkssage nicht im dunkeln Drange 
ihres Schaffens den Minister Bismarck mit dem Junker Bismarck 
verwechselt hat? Wir alle wohnten mit diesem in einem alten, 
windschiefen Hause — „Zum Deutschen Bunde"“ genannt —, und 
das hat er allerdings, da es sich nicht abtragen ließ, notgedrungen 
mit Kanonen zusammengeschossen, mit den Kanonen von Königgrätz. 
Am 17. Oktober neuneinhalb Uhr setzte ich bei kaltem, regne- 
rischem Wetter, das sich später aufklärte, meine Reise nach Varzin 
mit Extrapost fort. Bald lag der breitschultrige, dunkelrote Back- 
steinturm über dem südlichen Thore Schlawes hinter uns, und 
blasend fuhr der Schwager Postillon zwischen den Scheunen der 
Ackerbürger ins offne Land, eine weite Fläche, hinaus, über der 
sich im Südosten eine Hügelkette, teils kahl, teils bewaldet, in bläu- 
lichen Umrissen erhebt. Die Chaussee, auf die wir gelangt waren, 
ist gut erhalten, aber wenig belebt; denn sie verbindet nur kleine 
Städte miteinander, und auch an Dörfern scheint der Landstrich, 
den sie durchschneidet, keinen Überfluß zu haben. Die Straße strebt 
auf die Hügelkette zu, die später rechts liegen bleibt. Die etwas 
ansteigende Fläche ist zuerst waldlos. An den Gräben der Chaussce 
wiegen junge Birken mit weißen Stämmen und vergilbtem Laube, 
dann gelbe Pappeln und rostrote Kastanien ihre Wipfel im Herbst- 
winde, der hier schon einen recht winterlichen Atem hat — nicht 
zu verwundern; denn wir befinden uns nur wenige Meilen vom 
Gestade der Ostsee. 
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