Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

468 Vierundzwanzigstes Kapitel Varzin 
Vielleicht ist es ein mystischer Vorgang in seiner Seele, möglicher— 
weise aber auch die Folge körperliche Prozesse, Überreiztheit, Er— 
müdung, eine Dissonanz seines nervösen Lebens. 
So klagte er Sonntag den 21. Oktober an der Stelle, von 
der ich hier berichte, nachdem er eine Weile schweigend vor sich hin— 
gesehn hatte, gegen uns, daß er von seiner politischen Thätigkeit 
wenig Freude und Befriedigung gehabt habe. Niemand liebe ihn 
deshalb, sagte er. Er habe damit niemand glücklich gemacht, sich 
selbst nicht, seine Familie nicht, auch andre nicht. 
Wir protestierten. Er aber fuhr fort: 
„Wohl aber viele unglücklich. Ohne mich hätte es drei große 
Kriege nicht gegeben, wären achtzigtausend Menschen nicht umge— 
kommen, und Eltern, Brüder, Schwestern, Witwen trauerten nicht.“ 
„Und Liebsten,“ bemerkte ich etwas prosaisch und vorlaut. 
„Und Liebsten,“ wiederholte er. „Das habe ich indessen mit 
Gott abgemacht. Aber Freude habe ich wenig oder gar keine gehabt 
von allem, was ich gethan habe, dagegen viel Verdruß, Sorge und 
Mühe,“ was er dann noch eine Zeit lang weiter ausführte. 
Wir schwiegen, und ich war befremdet. Aber ich hörte dann 
von Holstein und Bucher, daß er sich in den letzten Jahren schon 
einige male in ähnlicher Weise geäußert habe. Ich wiederhole, daß 
solche Kundgebungen doch wohl nur Symptome vorübergehender 
sentimentaler Auffassung seiner Mission und seiner Erfolge sind. 
Doch hat er tiefgehendes Gefühl; denn Fräulein Jenny erzählte 
mir am Morgen nach diesem Auftritt, daß ihm nach dem Bruche 
mit Moritz von Blanckenburg, als er zuerst davon gesprochen hätte, 
„die hellen Thränen über die Backen herabgelaufen“ seien. 
Übrigens gab sich auch Goethe gelegentlich melancholischen Be- 
trachtungen hin, die den obigen Außerungen Bismarcks nahe ver- 
wandt waren. Gegen den Schluß seines Lebens hin klagte er gegen 
Eckermann (Gespräche I, 76): „Im Grunde ist es nichts als Mühe 
und Arbeit gewesen, und ich kann wohl sagen, daß ich in meinen 
fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen ge- 
habt. Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und 
Schaffen. Allein wie sehr war dieses durch meine äußere Stellung 
gestört, beschränkt und gehindert. . Ein weitverbreiteter Name, 
eine hohe Stellung im Lande sind gute Dinge. Allein mit allem
	        
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