Varzin Vierundzwanzigstes Kapitel 497
heit liest er die mit der Post oder dem Telegraphen eingetroffnen
Sachen leichter Art, über deren Erledigung er dann gewöhnlich
sofort die notwendigen Weisungen erteilt. Kurz vor oder bald nach
dem Lunch werden mit den herrschaftlichen Beamten, den Pächtern
und Bauern Varzins sowie mit den Handwerksleuten, die man
beschäftigt, Privatangelegenheiten besprochen und später wichtigere
politische Fragen studiert und sonst bearbeitet. Bei günstigem Wetter
zwischen ein und zwei Uhr nachmittags eine Ausfahrt im offnen
Wagen oder ein Ritt weit hinaus ins Gelände, bisweilen, weil
ein Neubau oder eine vor kurzem angelegte Schonung oder der
Fortschritt einer Feldarbeit zu besichtigen ist, oder weil der Fürst
einem Fischzuge in einem der Waldteiche seiner Güter beiwohnen
oder der Holzpapiermühle einen Besuch abstatten will, häufig auch
nur der Bewegung und Erfrischung im Freien halber. Besuche bei
Nachbarn oder von seiten solcher scheinen selten vorzukommen, viel—
leicht weil politische Ansichten und Absichten beide Teile von ein—
ander fernhalten.
Vor dem Varziner Aufenthalte des Kanzlers im Sommer und
Herbst 1877 war ihm das weite Reiten schwer gefallen, und
namentlich hatte ihn das Galoppieren angegriffen. Auch hier hatte
sich die Heilkraft der Gasteiner Quellen bewährt. Bei der oben
geschilderten Sonntagstour nach Annenhof legten beide Reiter an-
fangs und zuletzt ziemlich große Strecken im Galopp zurück. Sie
waren mit geringen Unterbrechungen fast vier Stunden im Sattel
gewesen.
Zwischen fünf und sechs Uhr abends beginnt das Diner, das
sich während meines Aufenthalts in Varzin unter meist lebhaften
und zuweilen recht denkwürdigen Gesprächen gewöhnlich bis nach
sieben Uhr ausdehnte, und an dessen Schlusse der Fürst die Hände
zusammenzulegen pflegte, als ob er ein kurzes Gebet spräche. Nach
dem Essen wird im Billardsaal ein Stündchen bei einer Tasse
Kaffee verbracht, wo der Kanzler, wie erwähnt, gewöhnlich am
Ofen neben der großen Vase mit der zur Germania gewordnen
Borussia ein paar Pfeifen Tabak raucht und gelegentlich das Kamin-
feuer mit den davor in einem Korbe bereitgestellten Tannenzapfen
nährt. Gegen zehn Uhr trinkt man im Zimmer der Fürstin den
Thee, von dem sich deren Gemahl indes während der Tage meiner
Busch. Tagebuchblätter II 32