Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

498 Vierundzwanzigstes Kapitel Varzin 
Anwesenheit nicht einschenken ließ, indem er nur ein Glas Milch 
genoß, und eine halbe Stunde vor Mitternacht begiebt man sich 
für gewöhnlich in seine Schlafstube. 
Die Jagd überläßt der Kanzler seit einiger Zeit seinen Söhnen. 
Dagegen liebt er nach wie vor lange Wanderungen durch seinen 
Park, und dieser verdient in der That seine Zuneigung. Er ist 
eben so groß als schön, voll Heimlichkeit, voll Abwechslung, voll 
Wipfelmusik. Stattliche Buchen und Eichen, an einigen Stellen 
auch Gruppen von rotstämmigen Föhren mit schirmartig sich aus— 
breitendem Geäste erheben ihre Kronen über das Unterholz der 
Hügel oder über das Gras und Moos der lichtern Senkungen. 
Schlangenwege winden sich über seine Höhen und durch seine Tiefen. 
Schmalere Pfade, von Gezweig überhangen, kommen hinzu. Bis— 
weilen tritt man auf eine Fahrstraße hinaus, wo sich eine Aussicht 
nach einem fernen stillen Waldhügel öffnet. Am Saume der Partie 
des Parkes, wo er an die vom Vorbesitzer des Kanzlers vor- 
genommne große Rodung mit ihren schwarzgrauen Furchen und 
ihren von Heidekraut überwucherten Gräben grenzt, schließt sich 
ihm seitwärts ein breiter, wellenloser Weiher mit Spiegelbildern der 
Wipfel und Wolken, Schilf und Seerosen an. Hier und da ladet 
eine Bank an einem der an der Wetterseite bemoosten Buchenstämme 
mit Erinnerungszeichen, Anfangsbuchstaben von Namen u. dergl. 
zum Ausruhen und Meditieren ein. Der Fürst weiß jeden schönen 
Baum seines Parkes zu nennen, er scheint ihn von Grund aus 
studiert zu haben. Auch die Nacht, ihr Mond und ihre Sterne 
haben ihn hier wandern sehen, und sicher ist ihm bei solchen ein- 
samen Gängen mancher bedeutungsvolle Gedanke aufgestiegen und 
mancher Plan gereift, der nachher für uns, sein Volk, in Gestalt von 
Maßregeln und Gesetzen Frucht getragen hat. Unbewußt nimmt er 
seinen Lieblingsort von hier mit hinweg; selbst während des Feld- 
zugs in Frankreich hatte er ihn mit; denn sein Bild erschien 
ihm mit sonnenbeleuchteten Stämmen im Traume. Wiederholt 
kam er in Varzin auf seine Beobachtungen und Betrachtungen 
im Parke zu sprechen, und sehr anmutig wußte er selbst von 
den Dohlen in den Wipfeln zu erzählen, wie sie „ihren Kindern 
das Fliegen lehren,“ wie sie dieselben später „an die nahe See- 
küste zur Würmerdiät führen,“ und wie sie „als vornehme Leute
	        
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