Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

9. März 1880 Sechsundzwanzigstes Kapitel 565 
geblieben bin, so hat ers gewiß als Wunder betrachtet, und das 
nächstemal, wo ich ihm auf der Straße begegne, werde ich mich eines 
freundlichen Grußes von ihm gewürdigt sehen und glöücklich sein. 
O, diese kleinen Bonzen! 
So schrieb ich in mein Tagebuch, das über diese Begegnung 
mit dem Chef folgendes enthält: 
Der Kanzler trug einen schwarzgrauen Zivilrock und eine 
Militärhalsbinde. Er trank während unsrer Unterredung erst ein 
Glas helles Bier, dann Vichywasser, das ihm ein Diener holen 
mußte. Als ich meine Verbeugung gemacht hatte, reichte er mir 
die Hand über den Schreibtisch und sagte dann: 
„Ich habe Ihnen eigentlich heute nicht viel zu sagen, aber 
ich wollte Sie doch gern einmal wiedersehen. Mit meiner Gesund— 
heit geht es noch immer nicht gut. Ich habe zwar über nichts 
besondres zu klagen, schlafe genug — heute neun Stunden —, esse 
mit Appetit, werde aber immer gleich müde. Ich darf nicht viel 
gehen und nicht lange stehen; denn da kommen neuralgische Schmerzen. 
Das ist aber von dem vielen Arbeiten voriges Jahr und von den 
heftigen Gemütsbewegungen. Sie wissen ja, mit Gastein verträgt 
sich das am wenigsten. Da kanns gefährlich werden.“ 
„Ich war damals in großer Angst wegen Rußland und dachte, 
es würde zwischen dem und Osterreich zu einem Bündnisse kommen, 
wo die Franzosen auch dabei gewesen wären. Die Russen hatten 
zuletzt brutale Briefe an uns geschrieben, 1 mit Drohungen, wenn 
wir sie in der orientalischen Frage nicht unterstützten, und ich dachte, 
sie könnten nicht so auftreten, wenn sie nicht in Osterreich einen 
guten Freund hätten, der ein Bundesgenosse werden könnte. Sie 
hatten sich auch in Paris um ein Bündnis bemüht — durch Obru- 
tschew.: Das ist der Adjutant und Vertraute von Miljutin, dem 
Kriegsminister. Aber die Franzosen wollten nicht, und sie sagten 
es uns, dem Botschafter und sonst. Wie eine tugendhafte Frau 
es ihrem Manne sagt, wenn jemand ihr unanständige Anträge 
  
1 Gemeint ist vor allem der Brief Kaiser Alexanders vom 3./15. August 1879, 
jetzt bei H. Kohl, Wegweiser durch Bismarcks Gedanken und Erinnerungen 168 ff. 
G. u. E. II, 236. 
2 Den Chef des russischen Generalstabes.
	        
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