574 Sechsundzwanzigstes Kapitel 22. März 1880
„Verehrter Herr Doktor!
Mein Vater möchte Sie gern heute sprechen, entweder gleich,
wenn Sie Zeit haben, oder um 2½ Uhr nachmitttags. Um 13¾
geht er zur Gratulation ins Palais, sollten Sie also vor 1 Uhr
nicht kommen, so ist 2½ Uhr besser.
Verehrungsvoll
Gf. Bismarck.“
Um 2¼ Uhr war ich in Wilhelmstraße 77, wo der Chef vom
Kaiser soeben zurückgekommen war. Im Vorzimmer traf ich Bucher,
der elend aussah und über zu viel Arbeit klagte. Der Fürst saß,
als ich bei ihm eintrat, in einem grauen Rocke, Glaceekürassier-
stiefeln und weißen Hosen, einen Orden um den Hals, an seinem
Schreibtische, der diesmal so gestellt war, daß der Chef den Rücken
dem auf den Garten hinausgehenden Fenster zukehrte. Er sagte,
nachdem er mir, wie gewöhnlich, die Hand gereicht und während
er die Grenzboten über das Bündnis mit Osterreich und über Stosch,
die ich ihm tags vorher übersandt hatte, aus einem vor ihm liegenden
Couvert zog: „Haben Sie mir das hier geschickt?“
Ich bejahte die Frage.
Er: „Hm, es ist wohl schon gedruckt?“
„Ja, schon in andern Zeitungen abgedruckt und nach London
telegraphiert.“
Er: „Das ist schade. Der Aufsatz ist im ganzen recht gut,
Sie haben ein starkes Gedächtnis, aber ich hätte einiges milder
gewünscht. Er ist etwas zu gepfeffert, zu schroff.“
Er las die Stelle laut, wo es hieß, der Kaiser habe noch
zuletzt lange Widerstreben gezeigt, und sagte: „Das ist wahr, aber
zu stark ausgedrückt.“ Er fuhr fort mit Lesen, kam dahin, wo von
Rußlands Tücke und Verlogenheit die Rede war, und bemerkte:
„Das ist zwar auch die Wahrheit, hätte aber ebenfalls mit mehr
diplomatischer Feinheit gegeben werden sollen, jetzt, wo sie andre
Saiten aufziehen. Wir wollen ja Frieden haben jetzt, nachdem wir
die Rüstung oder den Revolver angeschnallt haben. Auch hätten
wohl nicht beide Artikel in einem Hefte erscheinen sollen. Dann ist
da auch manches erwähnt, was ich nicht für das Publikum, sondern
nur zu Ihrer eignen Information erzählt habe. Nun werden sie