Full text: Tagebuchblätter. Zweiter Band. (2)

11. Mai 1880 Sechsundzwanzigstes Kapitel 591 
stark gegen Frankreich werden lassen wollte, weil dann der Wert 
seiner Freundschaft und seines etwaigen Beistandes gesunken wäre. 
Wir sollten von ihm abhängig bleiben, ihm zu Gegendiensten ver- 
pflichtet.1 Genau so ists mit den Liberalen, auch denen vom rechten 
Flügel. Sie denken zuerst an sich, an ihre Partei, und daß die 
Regierung sie als Macht betrachten soll, deren guter Wille seinen 
Preis hat. Sie fühlen sich eigentlich als Fremde und der Re- 
gierung gegenüber als Opposition, die gewonnen werden muß durch 
Konzessionen, deren Unterstützung geschätzt werden muß und belohnt, 
möglichst hoch und möglichst bald. Immer soll ich ihre Unentbehr- 
lichkeit fühlen, damit ich mich genötigt sehe, mit ihnen zu paktieren. 
Darum darf die Regierung nicht zu stark werden, keine sichre Majo- 
rität haben, und so ist ihnen die Existenz des Zentrums im stillen 
willkommen. Es ist eine an Zahl starke Opposition, die zu ihren 
Absichten paßt, so wenig sie auch direkt mit ihnen als Ultramontanen 
gemein haben. Die Regierung soll diesen 95 oder 100 Oppositio- 
nellen von der katholischen Seite gegenüber jeden Augenblick ihre 
Schwäche zu empfinden haben für den Fall, daß die Liberalen sie 
ohne Beistand lassen. Sie soll mit ihnen rechnen müssen, mit ihnen 
handeln, ihnen, der Partei, ihr Wohlwollen abkaufen. Das ist 
aber Fraktionspolitik, keine solche, die den Staat im Auge hat.“ 
Er kam dann auf die Charakteristik des Zentrums zurück und 
setzte mir aus einander, daß nur etwa ein Drittel dieser Fraktion 
durch Nachgiebigkeit der Regierung gegen die Ansprüche der Kurie 
zu gewinnen sein und die Anhänger der Regierung verstärken würde. 
„Das sind — so fuhr er fort — die bayrischen Adlichen, die süd- 
deutschen Adlichen überhaupt und die aus Schlesien. Schon die 
westfälischen nicht. Die sind niemals mit der preußischen Herrschaft 
zufrieden und immer gegen die Regierung gewesen, schon vor der 
Existenz des Reichs, auch als der Papst sich mit Preußen sehr zu- 
frieden erklärte — ich meine Pius, der sagte, in Preußen befände sich 
die katholische Kirche besser als irgend anderswo. Dieser westfälische 
Adel schmollt aus Partikularismus wie die Welfen. Sie können die 
alten bischöflichen Zeiten nicht vergessen und die Vorteile, die mit 
ihnen verloren gegangen sind — die ägyptischen Fleischtöpfe und 
  
1 Vgl. G. u. E. II, 231.
	        
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