g 37 Die Abgrenzung der Verwaltungsgerichtsbarkeit. 89
in der Gesetzgebung des Jahres 1821 mehrfach zum Ausdruck 1), und war in bezug auf einzelne
Angelegenheiten (z. B. hinsichtlich des Verfahrens bei Gemeinheitsteilungen, bei Ausmittlung von
Wildschäden usw.) bereits in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts tatsächlich verwirklicht 2).
Das weitere Fortschreiten dieser Abgrenzung, welches mit dem Entwicklungsprozeß der
Behördenorganisation der inneren Verwaltung Hand in Hand geht 2), bedeutet im Prin-
zipe keinen Fortschritt 4), wenngleich anzuerkennen ist, daß der Kreis der mit gewissen Ver-
fahrensgarantien ausgestatteten Angelegenheiten allmählich mehr und mehr erweitert worden
ist. Das Gesetz, betr. das oberste Verwaltungsgericht vom 11. Januar 1875 (RBl. S. 45),
vom 16. April 1879 (Rl. S. 131) bezeichnete mit der Schaffung eines einheitlichen, un-
abhängigen obersten Verwaltungsgerichts zwar einen gewissen Höhepunkt für die Organi-
sation der Verwaltungsrechtspflege, zugleich aber auch den Anfang eines mehr als dreißig-
jährigen Stillstandes in der Weiterentwicklung der durch das Gesetz vom 12. Juni 1874
(Kreisordnung) in keineswegs befriedigender Weise geregelten Abgrenzung der Verwaltungs-
gerichtsbarkeit.
Erst das Gesetz, die Verwaltungsrechtspflege betreffend, vom 8. Juli 1911, RBl. S. 265,
brachte nach vielfachen vergeblichen Ansätzen zu einer durchgreifenden Reform im Zusammen-
hang mit der Revision der Kommunalgesetzgebung eine genauere Abgrenzung des Gebiets
der Verwaltungsrechtspflege von demjenigen der eigentlichen Verwaltung und eine Zu-
sammenfassung der bisher in beinahe hundert Einzelgesetzen zerstreuten Bestimmungen über
die verwaltungsgerichtlichen Zuständigkeiten und das verwaltungsgerichtliche Verfahren. Zu-
gleich wurde unter Aufrechterhaltung der bisherigen Grundlagen der Verwaltungsgerichts-
barkeit eine erschöpfende Neuregelung des Verfahrens vor den Verwaltungsgerichten vorge-
nommen, wobei sich ebenso wie bei den neueren, für Hessen vielfach als Vorbild benutzten
Verwaltungsrechtspflegegesetzen Preußens, Sachsens und Badens ein starker Einfluß der
Bestimmungen der Reichszivilprozeßordnung und des Reichsgerichtsverfassungsgesetzes zeigt 5).
3. Das geltende Recht Hessens unterscheidet zwischen „Verwaltungsbeschluß-
sachen“ und „Verwaltungsstreitsachen im weiteren Sinne““"). Der
Unterschied liegt, wie sich schon aus den Ausführungen zu Ziff. 1 und 2 als selbstverständlich
ergibt, nicht in begrifflichen Momenten, und er tritt demgemäß nur in der Formdes Ver-
fahrens hervor7). Er äußert sich — ganz allgemein ausgedrückt — darin, daß für die
letzteren Angelegenheiten besondere Verwaltungsgerichte geschaffen und be-
sondere, von dem gewöhnlichen Verfahren der Verwaltungs-
behörden abweichende Verfahrensgrundsätze aufgestellt sind. „Ver-
1) Bgl. z. B. die Organisalionsverordnung v. 28. V. 1821, RBl. S. 179, Art. IX B.
Ziff. 2 über die Zuständigkeit des Staatsrats in allen Rekursen von den Entschridungen der
Verwaltungsbehörden in Administrativjustizsachen, und Landratsinstruktion v. 28. XI. 1821,
-l. S. 687, § 32 über das Verfahren in Fällen der administrativen Justiz.
2) Siehe Eigenbrodt I S. 365; vgl. hierher auch E. v. Meier S. 753, der mit
Recht darauf hinweist, daß in Hessen der Gedanke der Trennung der Verwaltungsrechtspflege
von der Verwaltung und die Der# der Schaffung eines besonderen Verwaltungsgerichtshofes
schon dreißig Jahre vor dem Erlasse des ersten anerkannten Verwaltungsrechtspflegegesetzes,
nämlich des badischen Gesetzes vom 5. Oktober 1863, verwirklicht war.
3) Siehe van Calker i. Jahrb. d. öff. R. B. II (1908) S. 121 ff.
4) Vgl. z. B. den die Zuständigkeit des Bezirksrats regelnden Art. 16 des Gesetzes vom
31. Juli 1848 (RBl. S. 217) mit den korrespondierenden Art. 18 ff. des Gesetzes vom 10. Febr. 1853.
5) Bezüglich der Vorgeschichte der Verwaltungsrechtsoflegereform s. besonders LV. II
1888/91 Prot. B. 1 Nr. 2 S. 3 u. 5; III Nr. 24 S. 20, Nr. 33 S. 72; IV Nr. 38 S. 6 u. 8;
Beil. B. 1 Nr. 11 S. 1, B. II Nr. 146 S. I ff.; LB. II 1891/94 Prol. B. I Nr. 3 S. 6,
Nr. 4 S. 8—9, Beil. B. I Nr. 31 S. 1; Prot. B. III Nr. 25 S. 14; Beil. B. II Nr 151
S. 1—2, 152 S. 1—94; Prot. B. V Nr. 53 S. 2; Beil. B. IV Nr. 384; endlich die drei Ent-
würfe von 1905, 1906 und 1910 mit wertvoller Begründung: LV. II 1903/5 Drucks. B. 4
Nr. 539 S. 1—82, L V. II 1905/8 Drucks. Nr. 110 S. 1—114: LV. 1908/11 II Drucks. Nr. 401
S. 1—113, Nr. 515, 589 (Ausschußber. Gutfleisch u. Reh), I. Beil. 111, 136 (Aus-
schußber. Schmidt u. Kleinschmidt).
6) Die Entwürfe v. 1906, S. 39, und v. 1910, S. 44 heben diesen Unterschied in der
Begründung richtig hervor. Bezüglich des Beschlußverfahrens s. unten 8 67.
7) Vgl. auch Nee. schn S. 673.