Erster Teil.
Geschichtliche Einleitung.
8 1. Die staatsrechtliche Entwicklung der hessischen Lande bis zur Mitte des
16. Jahrhunderts. Die Geschichte des hessischen Staates hat ihren natürlichen Ausgangs-
und Mittelpunkt in der Geschichte der Hessen, der vormaligen „Chatten“, als desjenigen Volks-
stammes, der neben der dem fränkischen Stamme angehörenden Bevölkerung der Provinz
Rheinhessen noch heute den Kern des hessischen Staatsvolks bildet. Die politische Geschichte jenes
Stammes fällt seit dem Anfang des 13. Jahrhunderts im wesentlichen zusammen mit der
Geschichte des hessischen Fürstenhauses.
In der Entwicklung Hessens lassen sich fünf Zeiträume unterscheiden 1). Der erste Zeit-
raum umfaßt die Geschichte von dem ersten historisch beglaubigten Auftreten der Hessen bis
zu ihrer Vereinigung mit Thüringen (etwa vom Beginne der christlichen Zeitrechnung bis
zum Jahre 1122); der zweite Zeitraum die Zeit der Verbindung Hessens mit Thüringen (1122
bis 1247); der dritte Zeitraum die Zeit von der Begründung der territorialen Selbständigkeit
Hessens durch Heinrich von Brabant bis zur endgültigen Teilung der Landgrafschaft nach dem
Tode Philipps des Großmütigen (1247—1567); der vierte Zeitraum die Geschichte der Land-
grafschaft Hessen-Darmstadt als eines selbständigen Territoriums des alten deutschen Reichs
(1567—1806). Der fünfte Zeitraum der hessischen Staatsgeschichte (1806 bis zur neuesten Zeit)
beginnt mit der Erhebung Hessen-Darmstadts zum Großherzogtum. Er schließt namentlich die
in engem Zusammenhange mit der Auflösung des Reichs stehende Aufhebung der alten Stände,
die Schaffung der konstitutionellen Verfassung, die Zeit der Zugehörigkeit zum deutschen
Bunde und endlich den Eintritt in den Norddeutschen Bund und in das Deutsche Reich in sich.
Der altgermanische Volksstamm der Chatten, der schon im ersten Jahrhundert nach
Christi Geburt eine einheitliche, in dem Gebiete zwischen Werra, Lahn und Main seßhafte
Völkerschaft bildete, war schon frühzeitig gezwungen, im Kampfe mit den Römern seine Kraft
zu stählen. Durch die Merowinger der fränkischen Herrschaft unterworfen, bildete das chattische
Land im Verlaufe der mehrfachen Teilungen der fränkischen Monarchie zunächst einen Teil
des ostfränkischen Reiches Austrasien; durch den Vertrag von Verdun (843) wurde es end-
gültig zu einem Bestandteile der neugeschaffenen deutschen Monarchie. Das Land zerfiel in
eine Anzahl von Gauen, an deren Spitze anfänglich frei gewählte Fürsten, später vom König
bestellte Grafen standen. Die Stellung der Grafen gewann im Laufe der Jahrhunderte mehr
und mehr an Macht und Bedeutung; aus ursprünglichen Beamten des Königs wurden sie
zu Lehensherrn mit immer größerer Selbständigkeit, die ihre Amter und Rechte gleich eigen-
tümlichen Besitzungen in ihren Familien weitervererbten und ihren Besitzstand durch'Heirat,
Erbschaft, Kauf und Gewalt ständig erweiterten.
Zu Beginn des 12. Jahrhunderts war es besonders das Haus Ludwigs des Bärtigen,
eines Zeitgenossen Kaisers Konrad II., welches zunächst im Thüringer Gebiete, dann aber — in-
solge der Beerbung der hessischen Grafen Werner und der Gisonen von Gudensberg — auch
in dem Lande der Hessen eine starke Vormachtstellung errang. Ein Enkel dieses Ludwig wurde
durch Kaiser Lothar II. im Jahre 1130 als Ludwig I. zum Landgrafen von Thüringen er-
hoben. Von diesem Zeitpunkte ab blieben die Landgrafschaft Thüringen und die von dieser
1) Vgl. H. Glagau, hess. Landtagsakten, I. Bd. (1508—1521), 1901;: Karl Hattemer,
Territorialgeschichte der Landgrafschaft Hessen bis zum Tode Philipps des Großmütigen, 1911 (mit
vielen Literaturangaben); Schrohe, Abriß der Geschichte des Großherzogtums Hessen, 1912.
van Calker, Hessen. 1