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die von Georgs Söhnen in den Jahren 1602 und 1606 aufgestellte Primogenitur-
ordnung.:), welche die frühere Teilbarkeit des Staates endgültig beseitigte. —
II. Die Staatsform Hessen-Darmstadts war in Ubereinstimmung mit dem bis-
herigen Rechtszustand der alten hessischen Lande diejenige einer durch Stände beschränkten
Erbmonarchie. Im Besitze der Landstandschaft befanden sich in erster Linie die
Städte, welche schon im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts zur Zeit der großen Ritterbünde
als kräftigste Stütze des Landesherrn bedeutenden Einfluß auf die Landesregierung gewonnen
hatten. An sie reihten sich etwa um die Mitte des 15. Jahrhunderts während der Erbstreitig-
keiten zwischen den Landgrafen Ludwig II. (1458—1471) und Heinrich III. (1458—1483)
als zweiter Stand die Ritterschaft. Den dritten der Landstände bildeten seit Ende des 15. Jahr-
hunderts (zum ersten Male 1498) die Prälaten; das waren der Ordenskomtur der Deutsch-
ordens-Ballei Schiffenberg, der Obervorsteher der adeligen Stifte und — wegen ihres vor-
dem geistlichen Besitzes — die Universität Gießen, vertreten durch den Kanzler und einen
Professor 2). Der Bauernstand hatte keine Repräsentation. Den Vorsitz auf den Landtagen
führte als Träger des Erbmarschallamtes das jedesmalige älteste, zu diesem Amte taugliche
Mitglied der altadeligen Familie von Riedesels). Die Zuständigkeit der Stände erstreckte sich
an sich nur auf das Steuerbewilligungsrecht; dieses Recht verschaffte ihnen jedoch auch einen
nach den Zeitläuften zwar wechselnden, im ganzen aber doch nicht unerheblichen, tatsächlichen
Einfluß auf Gesetzgebung und Verwaltung#).
Was die äußeren Verhältnisse der Landgrafschaften anlangt, so gehörte Hessen nach der
Kreiseinteilung des Kaisers Maximilian I. vom Jahre 1512 zum oberrheinischen Kreis. Im
Reichstage hatte Hessen eine zwischen den regierenden Landgrafen von Hessen-Kassel und
von Hessen-Darmstadt altermierende Virilstimme; zudem waren die hessischen Landgrafen
wegen ihrer schaumburgischen und hanauischen Besitzungen auch an den Kuriatstimmen
der westfälischen und wetterauischen Grafenbänke beteiligt. Dem Kaiser war Hessen nach
Maßgabe der Reichsgrundgesetze verfassungsmäßigen Gehorsam schuldig. Mit dem all-
mählichen Rückgang der Macht des Reiches wurde indessen das Verhältnis Hessens zu Kaiser
und Reich trotz der formell noch fortbestehenden Lehensabhängigkeit und trotz der verfassungs-
mäßigen Gehorsamspflicht immer loser. Die hessischen Landgrafen hatten sich vom Kaiser
mancherlei wichtige Privilegien, wie das privilegium de non evocando und das privilegium
de non appellando 5) zu verschaffen gewußt und übten im Innemn die meisten Hoheits= und
Regierungsrechte selbständig aus. Indem der Westfälische Frieden den Landesherrn im
Jahre 1648 ausdrücklich die Landeshoheit mit allen in dieser enthaltenen Einzelbefugnissen
zusprach, sanktionierte er lediglich einen Zustand, der in den meisten deutschen Staaten tat-
sächlich schon seit langen Jahren bestanden hatte. Auch die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt
nahm an der Entwicklung der abhängigen territorialen Gewalten zu selbständigen Staats-
gewalten regen Anteil. Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803 brachte
dem sich kräftig entwickelnden Staate einen reinen Gebietszuwachs von 63 Quadratmeilen
und eine Vevölkerungsvermehrung von 110 000 Seelen und bereitete so das Aufsteigen Hessens
in die Reihe der mittleren deutschen Staaten vor /).
5 3. Das Großherzogtum Hessen als absoluter Staat und der Ubergang zum
Verfassungsstaat. I. Die große Staatsumwälzung der Napoleonischen Zeit beseitigte den
1) Abgedruckt bei Beck II S. 115 ff.; s. auch Weiß, Verf.-R., S. 37.
2) Beal. Carl Ebel, Althessische Landtage, Gießen 1898; Schrohe S. 16, 19.
3) Bgl. Ledderhose, Kleine Schriften, 1787, Bd. 1 S. 33 ff.
4) Siehe Weiß, Verf.-R., S. 40; Andres, Die Einführung des konstitutionellen Systems
im Großherzogtum Hessen, Gieß. Diss., Berlin (Ebering, histor. Studien, H. 64) 1908,
S. 41 ff. Bernhard Rieger, Die Hessen-Darmstädtischen Landstände und der Absolutismus,
Gieß. Diss., Darmstadt 1894.
5) Über deren Bedeutung s. Meyer-Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts,
6. Aufl. S. 79. Bezüglich der Kaiserlichen Privilegien der Landgrafen von Hessen im einzelnen
s. LTedderhose, Bd. 3 S. 135 ff.
6) Vgl. Dieterich, Die Politik Landgraf Ludwigs X. von Hessen-Darmstadt von
1790—1806, Archiv f. hess. Geschichte, N. F. VII S. 417 ff.