152 Die Gesetzgebung. 8 63
kein Gesetz, auch in bezug auf das Landes-Polizeiwesen gegeben, aufgehoben oder abgeändert
werden.“ Die nächstliegende Frage, ob der Ausdruck „Gesetz“ hier im sormellen Sinne
gebraucht ist, wonach unter Gesetz jede durch das verfassungsmäßige Zu-
sammenwirken dergesetzgebenden Faktoren zustandegekommene
staatliche Willenserklärung, gleichgültig welchen Inhalts, zu
verstehen ist, muß unbedingt verneint werden.
Die Notwendigkeit dieser Verneinung ergibt sich namentlich aus folgenden Gründen:
a) Der die Bedeutung des Wortes „Gesetz“ näher präzisierende Zusatz „auch in bezug
auf das Landes-Polizeywesen“ bezieht sich offentsichtlich auf den Inhalt des Gesetzes, so
daß also auch das Wort Gesetz selbst nur im materiellen Sinne gemeint sein kann 1);
b) der logische Zusammenhang zwischen Art. 72 und 73 läßt den ersteren Artikel als die
Regel, den letzteren als die Ausnahme erscheinen 2). Sollte Artikel 72 lediglich dazu dienen,
den Gesetzesbegriff im formellen Sinne festzustellen, so müßte auch Art. 73 einen formalen
Begriff aufstellen. Dies tut er indessen nicht, sondern er spricht nur von bestimmten Fällen,
in welchen von dem für materielle Gesetze sonst geltenden Formalerfordernis die Mitwirkung
der Landstände unter bestimmten Voraussetzungen abgesehen werden kann.
c) Die Ersetzung des Wortes „Gesetz“ durch die oben gegebene Definition des Aus-
druckes „Gesetz im formellen Sinn“ würde den ersten Absatz des Art. 72 zu einer inhaltslosen
Phrase machen.
Unter diesen Umständen kann also der Ausdruck „Gesetz“ in Art. 72 HV. nur im „mate-
riellen Sinne“ verstanden werden. Es fragt sich daher nur noch, ob die hessische Verfassung
vielleicht irgendeine Begriffsbestimmung des Gesetzes in diesem Sinne enthält. Es ist der
Versuch gemacht worden, zur Erklärung des Gesetzesbegriffes den oben erwähnten Art. 23 HV.
heranzuziehen, der lautet: „Die Freyheit der Person und des Eigenthums ist in dem Groß-
herzogthume keiner Beschränkung unterworfen, als welche Recht und Gesetz bestimmen.“ Wäre
dieser Versuch auf dem richtigen Wege, so hätten wir nach der hessischen Verfassungsurkunde
unter Gesetz im materiellen Sinne alle diejenigen Grundsätze zu verstehen, welche — gleich-
gültig, ob auf ausdrücklichem, staatlichem Willensakt oder auf Herkommen beruhend — die
Freiheit der Person oder des Eigentums beschränken. Man könnte nun mit dieser Definition
des Gesetzes im materiellen Sinne meiner Ansicht nach wohl zufrieden sein, ließe sich nur der
Nachweis erbringen, daß diese Begriffsbestimmung wirklich als Legaldefinition gewollt sei.
Dieser Nachweis ist aber nicht möglich. Vielmehr beweisen die über den Art. 23 gepflogenen
gesetzgeberischen Verhandlungen und der Zusammenhang, in welchem dieser Artikel mit den
übrigen im dritten Titel der Verfassungsurkunde aufgeführten „allgemeinen Rechten und
Pflichten der Hessen“ steht, zweifelfrei, daß Art. 23 nicht der Feststellung des Gesetzesbegriffes,
sondern nur der von dem Abgeordneten Freiherrn von Gagern verlangten verfassungsmäßigen
Sicherung der droits de Phomme diente.
Man könnte sich nun versucht fühlen, nochmals auf den Gedanken zurückzukommen, ob
der Ausdruck „Gesetz“ in Art. 72 nicht vielleicht trotz der oben vorgebrachten Gegengründe
im formellen Sinne gebraucht sei. Art. 72 würde dann nur den Zweck verfolgen, den Weg der
Gesetzgebung im formellen Sinne festzustellen, während die Bestimmung darüber, welche staat-
lichen Willensakte jener Form bedürfen, durch Einzelvorschriften der Verfassung enumerativ
festgesetzt sein müßte. Die von Aull vorgenommene Untersuchung der in dieser Richtung
1) Die Beifügung dieses Zusatzes ist auf den Wunsch des Verfassungsausschusses der
II. Kammer zurückzuführen, welche im Hinblick auf den in dem Verfassungsedikt vom 18. III.
1820, Art. 20, unternommenen Versuch, speziell die polizeilichen Gesetze dem Landesherrn vor-
zubehalten, die Mitwirkung der Landstände beim Erlasse dieser Gesetze ausdrücklich fest-
gestellt wissen wollte.
2) Die Art. 72, 73, 75 und 76 sind aus einem einheitlichen „Desiderium"“ der Verfassungs-
ausschüsse der beiden Kammern zu Art. 20 des Verfassungsedikts hervorgegangen. Die sechs
in diesem Desiderium zusammengefaßten Wünsche beziehen sich sämtlich auf die Abgrenzung
der legislativen Funktionen der Landstände einerseits und des Großherzogs andererseits. Vgl.
das Protokoll über die Verfassungsverhandlungen vom 5. November 1820 (Archiv d. II. Kammer),
abgedruckt bei Andres S. 256 ff.