8 64 Der Weg der staatlichen Gesetzgebung. 155
Art. 76) endlich noch ein dritter Weg zugelassen, der vor dem Geschäftsordnungsgesetz von
1874 für die Landstände sogar die einzige Möglichleit bildete, Gesetze anzuregen: Eine der beiden
Kammern oder beide Kammern beschließen auf Antrag eines oder mehrerer Ständemitglieder,
die Regierung um Vorlage eines Gesetzentwurfes über einen bestimmten Gegenstand zu er-
suchen, worauf die Regierung, falls sie diesem Wunsche zu entsprechen beabsichtigt, in der
oben geschilderten Weise, wie bei den aus ihrer eigenen Initiative hervorgegangenen Gesetz-
entwürfen, verfährt 1).
2. Die Behandlung eines Gesetzentwurfes in den Kammern
bedingt vor allem dessen Drucklegung und die UÜberweisung an den aus 5—7 Mit-
gliedern bestehenden ständigen Gesetzgebungsausschuß, eventuell an den nach
Maßgabe des Gesetzes vom 14. VI. 1836 2) oder zufolge besonderen Beschlusses der Kammer
gewählten Sonderausschuß. Der zuständige Ausschuß hat in jeder der beiden
Kammern die Aufgabe, die Beratung vorzubereiten und zu diesem Zwecke alle zur Bearbeitung
des an ihn verwiesenen Gesetzentwurfs erforderlichen Erläuterungen zu sammeln, sich hier-
über mit den betreffenden Ministerien oder den besonderen Landtagskommissären zu benehmen,
die Ausgleichung etwaiger auseinandergehenden Ansichten zu versuchen und nach Erwägung
der Gründe für und wider die Meinung aller Ausschußmitglieder in den Vortrag an die Kammer
aufzunehmen. Bei allen Regierungsvorlagen müssen sich die beiderseitigen Ausschüsse mit-
einander ins Benehmen setzen. Vor der definitiven Beschlußfassung über einen Regierungs-
vorschlag sind die betreffenden Regierungskommissäre in entsprechender Weise zur Teilnahme
an der Beratung einzuladen. Die Ausschußvorträge sind in der Regel schriftlich zu erstatten 3).
Frühestens nach Ablauf von 24 Stunden seit der mündlichen Berichterstattung bzw.
seit Verteilung des gedruckten Ausschußberichts kann die erste Beratung des Gesetzentwurfes
und der dazu nach Maßgabe der Geschäftsordnung gestellten und vorbereiteten Anträge vor-
genommen werden. Nach Schluß der Beratung erfolgt, sofern die Kammer nicht eine andere
Sitzung hierfür bestimmt, in der nämlichen Sitzung die artikelweise vorzunehmende Abstimmung.
Nach dem Schlusse der ersten Beratung stellt der Präsident die gefaßten Beschlüsse zusammen,
und zwar neben der Gesetzesvorlage bzw. dem Gesetzesvorschlage. Frühestens am zweiten Tage
nach dem Abschlusse der ersten Beratung bzw. nach Mitteilung der gedruckten Zusammen-
stellung erfolgt die zweite Beratung. Eine Abkürzung dieser Frist kann nur mit zwei Drittel
Majorität der anwesenden Kammermitglieder beschlossen werden. Abänderungsvorschläge
können mit Unterstützung von zehn Mitgliedern in der Zwischenzeit und im Laufe der Ver-
handlung eingebracht werden. Am Schlusse der zweiten Beratung wird artikelweise sowie
über Annahme oder Ablehnung im ganzen abgestimmt. Sind Verbesserungsanträge an-
genommen worden, so wird die Schlußabstimmung ausgesetzt, bis der Vorstand der Kammer
die Beschlüsse zusammengestellt hat ½.
tüglich der Frage der Gesetzesinitiative überhaupt s. LV. II 1873/75 Prot. B. 3 Nr. 48 und
ie einschlägigen Verhandlungen der I. Kammer.) Als Beispiel einer ständischen Gesetzes-
initiative vgl. LV. 1 1908/11 Beil. 108, „Initiativantrag von 19 Mitgliedern der I. Kammer
der Stände auf Anderung des Gesetzes, betreffend das Besteuerungsrecht der Kirchen“ usw.,
beginnend mit den Worten: „Die Unterzeichneten beantragen: Hohe Erste Kammer wolle folgen-
den Gesetzentwurf beschließen ..“ Hinsichtlich der weiteren Behandlung dieses Entwurfs s. L.
II 1908/11 Drucks. 654 (Ausschußbericht Dr. Osann).
1) Vgl. z. B. LV. II 1908/11, Drucks. Nr. 57, Antrag der Abg. Ulrich u. Gen. „Die
Kammer wolle beschließen, Großherzogliche Regierung um Vorlegung eines Gesetzentwurfes
zu ersuchen, betreffend Einrichtung einer obligatorischen staatlichen Mobiliarversicherung.“
2) Bezüglich des Gesetzes, die Ausführung des Art. 92 der Verfassungsurkunde hinsichtlich
gröberer Werke der Gesetzgebung betr., vom 14. VI. 1836 (RBl. S. 305) s. Materialien LV.
1 1836 Prot. B. 6, Prot. 109 S. 12 ff.; vgl. auch LV. 11 1851/55 Beil. B. 14, Beil. 882
S. 6 und Beil. 883 S. 7.
3) Geschäftsordnungsgesetz Art. 33, 23 Ziff. 2, 26, 27. — Die durch die Regierungs-
kommissäre vermittelte Mitwirkung der Regierung bei der Feststellung des Gesetzesinhalts tritt,
zumal da sie sich zum großen Teil in den Ausschußsitzungen abspielt, nach außen hin vielfach
zurück und erscheint daher in der Offentlichkeit häufig weniger bedeutsam, als sie in Wahrheit ist.
4) Geschäftsordnungsgesetz Art. 34, 44, 45.