8 65 Die Verordnungen des Landesherrn und der Zentralbehörden. 159
a) Die eine Kammer hat einen bestimmten Gesetzesvorschlag angenommen, die andere
hat ihn verworfen;
b) die Regierung hat den Gesetzesvorschlag dem nächsten Landtag wieder vorgelegt und
dabei das gleiche Ergebnis wieder erzielt 1);
c) nunmehr hat die Regierung eine gemeinsame Verhandlung und Ab-
stimmungbeider Kammern unter dem Vorsitze des Präsidenten der ersten Kammer
verlangt 2).
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so entscheidet:
Wenn in derjenigen Kammer, die den Entwurf angenommen hatte, eine Zweidrittel-
mehrheit für den Entwurf bestand, einfache Mehrheit;
wenn in jener Kammer keine solche Mehrheit bestanden hatte, Zweidrittel-
majorität der in der gemeinsamen Sitzung anwesenden Mitglieder der beiden Kammern.
Bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Präsidenten der zweiten Kammer.
4. Auf Verfassungsänderungen finden die vorstehenden Bestimmungen
des Art. 75 HV. keine Anwendung. Vielmehr bedürfen gemäß Art. 110 HV. „Abänderungen
und Erläuterungen der Verfassungsurkunde 3)/ stets der Zustimmung beider Kammern,
wobei außerdem noch für jede der beiden Kammern eine gualifizierte Stimmenmehrheit
gefordert wird. In der zweiten Kammer wird hierfür die Zustimmung von wenigstens
26 Mitgliedern, und in der ersten Kammer die Zustimmung von wenigstens 12 Mitgliedern
verlangt. Für den Fall aber, daß die Anzahl der an der Abstimmung teilnehmenden Mit-
glieder so groß sein sollte, daß zwei Drittel davon mehr als die vorgenannten Zahlen betragen
sollten, wird die Zustimmung von zwei Drittel der wirklich Abstimmenden gefordert.
§ 65. Die Verordnungen") des Landesherrn und der Zentralbehörden. I. Nach
dem vor dem Erlasse der hessischen Verfassungsurkunde bestehenden Sprachgebrauch fehlte
dem Ausdrucke „Verordnung“ jede spezifische, ihn von dem „Gesetz“ unterscheidende Bedeutung.
Ebenso wie der Ausdruck „Gesetz“5) wurde auch das Wort „Verordnung“ ganz willkürlich und
systemlos zur Bezeichnung jeder beliebigen Anordnung der Staatsgewalt angewandt, gleich-
gültig, ob sich der staatliche Befehl an Behörden oder Untertanen richtete, ob er einen Einzel-
fall oder eine unbestimmte Mehrzahl von Fällen betraf, gleichgültig auch, von wem die frag-
liche Anordnung ausging 6). Erst dadurch, daß mit der Schaffung des Art. 72 HV. zugleich die
Einführung des der hessischen Behördensprache bisher fremden formellen Gesetzes begriffes
in das hessische Verfassungsrecht erfolgte, gewann auch der Ausdruck „Verordnung“ eine genauer
umschreibbare, präzisere Bedeutung. Diese Bedeutung, deren sich damals allerdings wohl nur
wenige Beteiligte klar bewußt waren, ergibt sich aus dem Vergleiche des Art. 72 mit Art. 73
HV. Während der erstgenannte Artikel den Erlaß von Gesetzen im materiellen Sinn be-
1) Dabei können jedoch die beiden Kammern ihre Rollen getauscht haben.
2) Die jetzige Fassung des Art. 75 läßt deutlich erkennen, daß es sich hier um die Geltend-
machung eines Rechtes der Krone handelt.
3) Bezüglich dieses Begriffs s. 1) Sell, „Welche einzelne besondere Gesetze sind als Be-
standteile der Verf Urk. usw. anzusehen?“ in Bopp, Mitteilungen a. d. Materialien usw.
Bd. IV. S. 8—22; 2) Weiß, „Bemerkungen über den Art. 110 der Verfrk. usw.“ in der
Zeitschrift f. Gesetzgebung u. Rechtspflege des Großherzogtums Hessen usw., hrsg. v. Böhmer,
Bopp und Jaeger B. I (1834) S. 123—154; 3) Beobachter in Hessen l. Jahrg.
(1832) S. 40; II. Jahrg. (1833) S. 217; 4) folgende Kammerprotokolle: LV. II 1821 B. 3, Prot.
145 S. 66 ff.; L V. II 9. Ldtg., Prot. B. 2 Nr. 40—42; L V. II 11. Ldtg. Prot. B. 5 Nr. 114
S. 7 ff.; Nr. 115 S. 51 ff.; Nr. 116 S. 1—61; Nr. 117 S. 10 ff.; LV. II 19. Ldtg. Prot.
B. 5 Nr. 71; L V. II 20. Ldtg. Prot. B. 9 Nr. 128 S. 3; L V. 1 21. Ldtg. Prot. Nr. 8 S. 4,
Nr. 11 S. 6; LV. II 1872 Prot. 130 S. 48 ff.
4) Der Ausdruck „Verordnung“ ist im folgenden, soweit sich nicht aus dem Zusammenhange
etwas anderes ergibt, in dem Sinne gebraucht, welchen die herrschende Terminologie mit dem
Ausdrucke „Verordnung im engeren Sinne" oder „Rechtsverordnung“ (= „Verordnung
im formellen Sinne“") verbindet. Vgl. hierzu Meyer-Anschütz S. 570 f. und die dortigen
Literaturangaben.
5) Vgl. den vorigen Paragraphen.
6) Siehe Aull S. 5 ff. mit eingehender Beweisführung.