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handelt, indem er diesen Staatsakt an die Zustimmung der Volksvertretung knüpft und damit
zugleich den Begriff des Aktes der „Gesetzgebung“ im formellen Sinne schafft, spricht Art. 73
von den ohne Zustimmung der Stände ergehenden Großherzoglichen „Verordnungens".
Art. 73 erklärt nämlich den Großherzog für befugt: „ohne ständische Mitwirkung die zur Voll-
streckung und Handhabung der Gesetze erforderlichen, sowie die aus dem Aufsichts= und Ver-
waltungsrecht ausfließenden Verordnungen und Anstalten zu treffen und in dringenden
Fällen das Nöthige zur Sicherheit des Staats vorzukehren“.
Die erste Gruppe der hier genannten „Verordnungen“, das sind „die zur Vollstreckung
und Handhabung der Gesetze erforderlichen Verordnungen“", entnahm der Eklektizismus des
hessischen Gesetzgebers wörtlich dem § 89 der Württembergischen Verfassung vom 25. Sep-
tember 1819. Die zweite Gruppe, das sind „die aus dem Aufsichts= und Verwaltungsrecht aus-
fließenden Verordnungen“, fanden die damaligen Vertrauensmänner der hessischen Kammern
in §& 66 der Badischen Verfassung vom 22. August 1818 1), sowie in ganz ähnlicher Formulierung
in §& 47 der landschaftlichen Verfassung von Sachsen-Hildburghausen vom 19. März 1818. Die
dritte selbständige Verordnungsbefugnis des Großherzogs, nämlich das Recht, „in dringenden
Fällen das Nöthige zur Sicherheit des Staats vorzukehren“, wurde wieder beinahe wörtlich
dem §& 89 der württembergischen Verfassung entnommen. Dabei mag dem hessischen Gesetz-
geber gleichzeitig auch der § 66 der badischen Verfassung vorgeschwebt haben, wonach sich die
Zuständigkeit des Großherzogs erstreckt auf: „alle für die Sicherheit des Staats nöthigen Ver-
fügungen, Reglements und allgemeinen Verordnungen“ .. und zwar „auch solche, ihrer Natur
nach zwar zur ständischen Berathung geeignete, aber durch das Staatswohl dringeno ge-
botene Verordnungen, deren vorübergehender Zweck durch jede Verzögerung vereitelt würde“.
Daß der hessische Gesetzgeber sich bei Schaffung des Art. 73 HV. der Wesensmerkmale
des neugeschaffenen Verordnungsbegriffs und der Unterschiede zwischen den drei soeben ge-
nannten Gruppen von Verordnungen im einzelnen genau bewußt gewesen sei, ist nach der
Entstehungsgeschichte jener Bestimmungen und dem damaligen Stande der Staatsrechts-
wissenschaft nicht anzunehmen. Jedenfalls bestanden bezüglich der Tragweite des Art. 73
unter den Organen der Legislative von Anfang an erhebliche Meinungsverschiedenheiten.
Während beispielsweise der an der Entstehung der hessischen Verfassung lebhaft beteiligte
Oberappellationsgerichtsrat und Landtagsabgeordnete Floret in Art. 73 lediglich ein Mittel
zur Abgrenzung des ständischen Rechts der Teilnahme an der Legislative von dem landesherr-
lichen „Ausführungs= und Verwaltungsrecht“ erblickte 2), sah die Regierung in diesem Artikel
offenbar eine weitgehende Delegation zum Erlasse von Rechtssätzen. Glaubte sie doch durch
einfache Einfügung der Worte „und der Gewalt über das Militär“ zwischen „aus dem Auf-
sichts- und Verwaltungsrecht“ und „ausfließenden“ die Möglichkeit zu erhalten, auf Grund
dieses Artikels das ganze Militärstrafrecht selbständig zu regeln 3). Auf Grund der hessischen
Verfassungsmaterialien läßt sich daher überhaupt nicht mit absoluter Sicherheit feststellen,
welchen Umfang das in Art. 73 HV. erwähnte landesherrliche Verordnungsrecht haben sollte,
und inwieweit dabei einerseits an die Aufstellung von allgemeinverbindlichen Rechts-
sätzen und andererseits an den Erlaß instruktioneller Vorschriften für die staatlichen
Behörden und Beamten oder an die Aufstellung von Verwaltungs nordnungen für
die der Aufsicht oder Verwaltung des Staates unterstehenden Einrichtungen gedacht war.
Indessen kann nach der bekannten, auf möglichst präzise Wahrung der ständischen Gesetz-
gebungsbefugnisse abzielenden Tendenz der Verfassungsverhandlungen und angesichts des
unverkennbaren äußerlichen und innerlichen Zusammenhanges der Art. 73 und Art. 72 HV. )
als außer Zweifel stehend bezeichnet werden, daß die eigentliche Bestimmung
des Art. 73 dahin geht, dem Landesherrn für bestimmte Fälle das
Recht der Aufstellung allgemeinverbindlicher Rechtssätze vorzu-
1) Vgl. Andres S. 247.
2) Siehe Floret, Histor.-krit. Darstellung usw. S. 147 ff.
3) Siehe Andres S. 224, 247 f.
4) Siehe hierüber oben § 63.