Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

8 65 Die Verordnungen des Landesherrn und der Zentralbehörden. 163 
  
2. Die zweite Gruppe der dem Landesherrn vorbehaltenen Verordnungen bilden gemäß 
Art. 73HV. „die aus dem Aufsichts- und Verwaltungsrecht ausfließen— 
den Verordnungen“!). Die Frage, ob unter diese Verordnungen nur Verwaltungs- 
oder nur Rechtsverordnungen oder aber sowohl Verwaltungs- als auch Rechtsverordnungen 
fallen, ist bestritten. Die zuverlässige Beantwortung dieser Frage setzt eine wissenschaftliche 
Spezialuntersuchung der Entstehungsgeschichte des angeführten Ausdruckes und seiner Vor- 
bilder voraus, die bisher leider noch fehlt. Die Erörterungen, die Aull a. a. O. aus Grund 
der landständischen Verhandlungen einer späteren Zeit und im Verfolge eines selbständig 
unternommenen Auslegungsversuches gibt, liefern m. E. keinen sicheren Beweis dafür, daß 
unter den fraglichen Verordnungen — wie Aull annimmt Snur Verwaltungsverordnungen 
im Sinne von Dienstbefehlen zu verstehen seien. Gerade die von Aull angeführten Außerungen 
hervorragender Parlamentarier einerseits und der Regierung andererseits zeigen, daß eine 
einheitliche Ansicht „des Gesetzgebers“ überhaupt nicht festgestellt werden kann. Die fragliche 
Verfassungsbestimmung teilt das Schicksal so vieler anderer Gesetzesvorschriften, die ohne die 
nötige Überlegung konzipiert oder aus einem fremden Gesetzgebungswerk herübergenommen 
werden: der Einc legt dies, der Andere jenes hinein — jeder glaubt, das Gesetz müsse seine 
Ansicht und seinen Willen zum Ausdruck bringen — und schließlich entscheiden über die 
Auslegung nicht die Meinungen der Verfassungsinterpreten, sondern die Machtverhältnisse. 
Ebenso sicher, wie die Regierung sich auf Grund ihres Aufsichts- und Verwaltungesrechts zeit- 
weilig ohne jedes Bedenken zum Erlaß reiner Rechtsverordnungen befugt hielt, ebenso sicher 
wurde dies von maßgebenden Volksvertretern zu anderen Zeiten mit größter Entrüstung als 
rechtswidrig gebrandmarkt. Aus den Parlamentsverhandlungen läßt sich also hier meines 
Erachtens überhaupt kein zuverlässiger Schluß ziehen. Dagegen trifft hier vielleicht die von 
Thoma d. a. O. (S. 111 ff.) untermmommene Konstruktion eines „UAbergangsrechts“ 
das richtige: Es war beim Erlaß der Verfassungsurkunden der süddeutschen Staaten un- 
zweifelhaft ein Ding der Unmöglichkeit, den ganzen Bedarf an Rechtssätzen sofort in der neuen 
Form des Gesetzes zu decken. Man war daher gezwungen, einerseits einen Teil des vor- 
konstitutionellen Rechts fortbestehen zu lassen, andererseits für eine gewisse Ubergangs- 
zeit für einzelne Angelegenheiten noch die Formen der vorkonstitutionellen Rechtssetzung 
beizubehalten. Die Dauer dieser Übergangszeit konnte nicht von vornherein bestimmt werden, 
sondern sie mußte sich aus dem Bedürfnis — insbesondere aus dem Fortschreiten der for- 
mellen Gesetzgebung — ergeben. 
Wenn man die fraglichen Worte des Art. 73 im Zusammenhang mit den grundlegenden 
Sätzen des Art. 72 unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, so sieht man folgendes: Prinzipiell 
bedarf jeder Rechtssatz der Form des Gesetzes. Von diesem Prinzipe ist aber abzuweichen, 
einmal, wenn es sich um den Erlaß von Vorschriften handelt, die zum Vollzuge von formellen 
Gesetzen notwendig sind, zum zweiten, wenn es sich um Vorschriften handelt, die dem durch 
formelle Gesetze vorläufig noch nicht näher geregelten Rechtsgebiete 
des landesherrlichen „Aufsichts= und Verwaltungsrechts“ angehören. 
Was ist nun in diesem Zusammenhange unter „Aufsicht“", was unter „Verwaltung“ 
zu verstehen? Die Gegenüberstellung der beiden Worte macht dies ohne weiteres klar: Der 
Staat übt eine Aufsicht (im Gegensatz zu Verwaltung) 2) nur da, wo die Verwaltung nicht 
durchihnselbst, d. h. nicht durch Staatsorgane, sondern durch andere besorgt wird. 
Dies ist — wenn wir von dem hier nicht in Betracht kommenden Gebiete des Privatrechts 
absehen — der Fall im Verhältnisse des Staates zu den innerstaatlichen, sich selbst verwalten- 
den öffentlichrechtlichen Verbänden, insbesondere zu den Gemeinden. Ihnen gegen- 
über ist er auf die Aufsicht beschränkt. Die Gemeinden hatten sich gerade zur Zeit des Erlasses 
der Verfassung aus Anstalten des Staates neuerdings zu Selbstverwaltungskörpern entwickelt. 
Ihre Angelegenheiten sollten nach dem programmatischen Versprechen der Verfassungsurkunde 
2) Man bezeichnet diese „Aufsicht“ zweckmäßig als „Staatsaufsicht“ im Gegensatz zu der 
„Dienstaufsicht" über die Staats organe, die einen notwendigen Bestandteil der staatlichen 
Verwaltung bildet. 
11“
	        
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