164 Die Gesetzgebung. g 65
(Art. 45) durch ein Gesetz geordnet werden, welches als Grundlage die eigene, selbständige Ver-
waltung des Vermögens durch von der Gemeinde Gewählte „unter der Oberaufsicht
des Staats“ aussprechen sollte. Sucht man mit Bezug hierauf festzustellen, was damals
unter Oberaussicht verstanden wurde, so braucht man nur die landesherrliche Verordnung
vom 4. Juli 1812: „Das Rechnungswesen, die Prozesse und diejenigen Geschäfte der Ge-
meinden betreffend, wodurch die letzteren etwas erwerben oder veräußern“ 1), nachzulesen.
Man ersieht daraus, daß diese Verordnung zum großen Teile aus Vorschriften besteht, welche
nach der Verfassung der Form des Gesetzes bedurften. Was geschah nun aber bei der ver-
sprochenen gesetzlichen Regelung des Gemeinderechts? Nach dem Willen der Regierung sollte
im Einverständnis mit den Landständen stufenweise in der Gemeindegesetzgebung vorgeschritten
werden. Die Gemeindeordnung vom 30. Juni 1821 war als Ausgangspunkt einer weiteren
Entwickelung gedacht. Landstände wie Ministerium waren des Glaubens, „es werde keinen
Anstand haben, nach Ablauf weniger Jahre eine freiere Bewegung der Gemeinden in
allen Beziehungen gestatten zu können" 2). Die zahlreichen aufsichtsrechtlichen Vorschriften der
Verordnung vom 4. Juli 1812 behielten daher größtenteils Geltung, die eigene Tätigkeit der
Gemeinden blieb vorläufig auf das äußerste eingeschränkt — die not wendigerecht-
liche Grundlage aber für den bei diesem Stand der Gesetzgebung
unumgänglichen Erlaß solcher aussichtsrechtlichen Rechtsvor-
schriften schuf man sich in dem Vorbehalt des Aufsichtsrechts-
Verordnungsrechts in Art. 73 der Verfassung.
Wenn die hier versuchte Erklärung des „Aufsichtsrechts“ und der aus diesem
ausfließenden Verordnungen richtig ist — was, wie gesagt, erst durch eine eingehende, rechts-
vergleichende Spezialuntersuchung sicher festgestellt werden könnte —, dann macht die Aus-
legung des Ausdrucks „aus dem Verwaltungsrecht ausfließende Verordnungen“
keine erheblichen Schwierigkeiten mehr. Sofern das Wort „Aufsichtsrecht“ das recht-
liche Verhältnis des Landesherrn gegenüber den seiner Verwaltung nicht unterstehenden
Selbstverwaltungskörpern bezeichnet, ist unter „Verwaltungsrecht“
(im subjektiven Sinn) das rechtliche Verhältnis des Landesherrn zu den vom Staate ver-
walteten und die Verwaltung im staatlichen Auftrage führenden Staatsanstalten
(einschließlich der Staatsbehörden) 8) zu verstehen.
Die Behauptung, daß dieses Verhältnis sich schlechthin als ein „Uberordnungsverhältnis“
charakterisiere, und daß der Ausfluß des „Verwaltungsrechts“ daher nur in Verwaltungs-
verordnungen bestehen könne, ist meines Erachtens für die Anfangszeiten des konstitutionellen
Lebens nicht zutreffend. Wenn es auch richtig ist, daß der Hauptinhalt der für die Staats-
anstalten getroffenen Anordnungen von Anbeginn an in Dienstbefehlen bestand, so
läßt es sich doch nicht bestreiten, daß die in den ersten Jahrzehnten nach dem Inkrafttreten der
Verfassung unter der Bezeichnung von „Instruktionen“, „Edikten“, „Reglements“ usw. er-
gangenen Verordnungen des Landesherrn eine Reihe der wichtigsten Rechtssätze enthalten,
die keine einzige andere Rechtsgrundlage haben als eben das „Verwaltungsrecht“ des Art. 73.
Als einziges Beispiel sei hier die „Dienstinstruktion für die Großherzoglich Hessischen
Kreisräte“ vom 20. September 1832 (RBl. S. 609) angeführt. Diese Instruktion, die sich selbst
als einen „allgemeinen Leitfaden in Besorgung der ihnen, (d. i. den Kreisräten) zugewiesenen
Geschäfte“ bezeichnet, erscheint zwar im Gewande der Dienstanweisung und enthält auch tat-
sächlich zahlreiche Dienstvorschriften, nichtsdestoweniger ist ihr Inhalt zum erheblichen Teile
der des materiellen Gesetzes 1). Besonders deutlich tritt dies in den §§ 6, 11 und 12 der In-
1) Archiv der Gr. Hess. Gesetze I, S. 749.
2) Siehe Ahl S. 88, 89.
3) Vgl. den bei Andres S. 224 erwähnten Versuch der Regierung, zwischen die Worte
„Die aus dem Aufsichts- und Verwaltungsrecht“ und „ausfließenden Verordnungen“ den Zusatz
„undder Gewaltüber das Militär einzuschieben und darauf den Erlaß eines neuen
Militärstrafgesetzo'uchs zu gründen. S. auch oben S. 160 (unter I dieses Paragraphen).
4) Die „Amtsinstruktion für die Großherzoglich Hessischen Landräte“ vom 28. Xl. 1821
(RBl. S. 113) enthält schon zahlreiche Rechtssätze. Vglgl. Ludwig Schneider S. 79ff.