166 Die Gesetzgebung. 8 65
Landesherrn bröckelt — wenigstens soweit es sich um den Erlaß von Rechtsvorschriften auf
dem Gebiete der Staatsaufsicht und der Staatsverwaltung handelt — ein Stück nach dem
anderen ab. So wie die Gesetzgebung von 1874 ein für allemal die Möglichkeit beseitigt hat,
das Polizeiverordnungsrecht der Kreisräte zum Gegenstand einer landesherrlichen Verwaltungs-
Rechtsverordnung zu machen, ebenso hat die Gesetzgebung von 1911 wohl die letzte Möglichkeit
aufgehoben, Aufsichts-Rechtsverordnungen für die Gemeinden zu erlassen. Gleichwohl muß
m. E. an der grundsätzlichen Zulässigkeit von Aussichts= und Verwaltungsrechts-Ver-
ordnungen in dem oben erörterten Sinne auch heute noch festgehalten werden.
In bezug auf Inhalt, Form und Verkündigung dieser Verordnungen gilt im übrigen das
gleiche wie für die Ausführungsverordnungen 1).
3. Die dritte Gruppe der dem Großherzog durch Art. 73 vorbehaltenen Rechtsverordnungen
sind die Notverordnungen":). Wenn Art. 73 den Großherzog für befugt erklärt,
„ohne ständische Mitwirkung in dringenden Fällen das Nötige zur Sicherheit des Staats
vorzukehren“, so kann diese Befugnis angesichts des Zusammenhangs, in dem sie in Art. 73
steht, und angesichts des Zusammenhangs, in welchem sich wiederum dieser Artikel mit dem
vorhergehenden Artikel befindet 3), nur als eine in das Gebiet der Gesetzgebung
eingreifende aufgefaßt werden. Der Eingriff, den der Großherzog sich hiernach gestatten
darf, kann in zwei Akten verschiedener Art bestehen: Entweder in einer mit dem bestehenden
Recht in Widerspruch stehenden Verfügung oder in einer das geltende Recht abändernden,
ergänzenden oder ausfhebenden Rechtsverordnung. Weährend die Verfügung sich
begrifflich notwendig mit dem von ihr getroffenen Einzelfall erschöpft und das bestehende Recht
im übrigen nicht berührt, bedeutet die Rechtsverordnung eine ihrem Wesen nach auf Dauer
berechnete Abänderung des materiellen Rechts. Die in Art. 73 HV. anerkannte Befugnis
des Großherzogs, „in dringenden Fällen das Nötige zur Sicherung des Staats vorzukehren“,
hat daher, insoweit sie sich in dem Erlasse von Rechtsverordnungen äußert, durch
Gesetz vom 15. Juli 1862 (RBl. S. 288) mit Recht eine zeitliche Einschränkung erfahren: Eine
derartige Verordnung „soll.. , falls sie nach Ablauf eines Jahres noch für längere Zeit oder
bleibend in Wirksamkeit erhalten werden soll, der alsdann gerade vereinigten Stände-
versammlung oder, wenn eine solche nicht anwesend ist, der nächsten Ständeversammlung
zur Erteilung ihrer Zustimmung vorgelegt werden“. „Erfolgt die Zustimmung, so bleibt die
Verordnung bis zur etwaigen Aufhebung oder Abänderung im Wege der Gesetzgebung in
Kraft.“ „Wird eine solche Vorlage von beiden Kammern der Stände oder auch nur von einer
derselben abgelehnt, so soll die Verordnung sofort außer Wirksamkeit gesetzt werden.“ Die
zu der dritten Gruppe von Verordnungen gehörigen, in der Schlußbestimmung des Art. 73
genannten Verordnungen sind also gegenüber den Rechtsverordnungen der ersten und zweiten
Gruppe dadurch unterschieden, daß ihnen nur interimistische oder provisorische
Gesetzeskraft zukommt. Erscheinen sie insofern als Verordnungen minderen Rechts,
so wohnt ihnen auf der anderen Seite im Vergleiche mit den Verordnungen der ersten und
zweiten Gruppe unter Umständen eine besondere Kraft bei. Während es nämlich bei den Voll-
zugsverordnungen und ebenso bei den Aufsichts= und Verwaltungs-Rechtsverordnungen ihrem
Wesen nach ausgeschlossen ist, daß ihr Inhalt mit bestehenden Gesetzen in Widerspruch steht,
ist dies bei den Notverordnungen offenbar nicht der Fall; die letzteren werden vielmehr viel-
fach gerade zu dem Zweck erlassen werden müssen, das geltende Recht mit Rücksicht auf einen
im Augenblicke bestehenden Notstand vorübergehend abzuändern oder aufzuheben.
Über die materiellen und formellen Voraussetzungen des Erlasses und der rechtlichen
Wirksamkeit der Notverordnungen enthalten der Art. 73 und das allegierte Gesetz von 1862
keine weiteren Vorschriften als die oben angegebenen. Als unbedingt notwendige Voraussetzung
1) Siehe oben S. 161 f.
2) Für Hessen fehlt bisher eine wissenschaftliche Spezialuntersuchung des Notverordnungs-
rechts; vgl. aber die auch für das hessische Recht vielfach verwertbare Tübinger Dissertation von
Robert Held, Das württembergische Notverordnungsrecht unter Vergleich mit dem Not-
verordnungsrecht anderer deutscher Staaten, Stuttgart 1905, und die dortigen Literaturangaben.
3) Siehe hierüber oben S. 151 f. u. 160 Anm. 4.