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zulegen“. Nunmehr erfolgte in raschem, einmütigem Zusammenwirken der Kammerausschüsse
und des Staatsministeriums die Vollendung des Verfassungswerks und die unveränderte
Annahme der auf diese Weise festgesetzten verfassungsmäßigen Bestimmungen durch beide
Kammern. Am 17. Dezember 1820 wurde die über das Verfassungswerk errichtete Urkunde
vom Großherzog vollzogen 1). Damit wurde der hessische Staat eine konstitutionelle Monarchie.
Die Verfassungsurkunde, welche sich in zahlreichen Bestimmungen unmittelbar und
nahezu wörtlich an die kurz vorher ergangenen Verfassungsurkunden Bayerns, Württembergs
und Badens anlehnt, entspricht im allgemeinen den bei ihrem Erlasse herrschenden konstitu-
tionellen Ideen; namentlich gewährte sie der Volksvertretung die Kompetenz zur Mitwirkung
bei der Gesetzgebung und bei der Steuerfestsetzung und gab eine sichere
Garantie der den modernen Staat kennzeichnenden, in Hessen allerdings großenteils schon
bestehenden Freiheitsrechte des Volkes. Dabei zeigt sie jedoch, im Gegensatz zu den
übrigen deutschen Verfassungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, in vielen Beziehungen
einen bewußten Zusammenhang mit dem Rechte der vorkonstitutionellen Zeit, namentlich
mit den altlandständischen Einrichtungen. Zugleich stehr sie in einzelnen Richtungen deutlich
unter dem Einfluß der zur Zeit ihrer Entstehung von seiten des Deutschen Bundes mit großer
Entschiedenheit verfochtenen Tendenzen einer möglichst engen Abgrenzung der landständischen
Befugnisse gegenüber der „allumfassenden“" fürstlichen Gewalt (H V. Art. 66 und 4). Sie ver-
tritt unter stillschweigender Verwerfung des damals in den süddeutschen Staaten so heiß um-
kämpften Gedankens der „Volkssouveränität“ ausgesprochenermaßen den Standpunkt des
„monarchischen Prinzips“. Trotz der großen Umwälzungen, welche sich seit 1820 vollzogen
haben, und trotz der mannigfachen ausdrücklichen und stillschweigenden Abänderungen, welche
die Verfassungsurkunde inzwischen erfuhr?:), sind ihre fundamentalen Bestimmungen bis auf
den heutigen Tag die Grundlage für den verfassungsrechtlichen Zustand des hessischen Staates
geblieben.
§ 4. Das Verhältnis Hessens zu Gesamtdeutschland. I. Die Zugehörigkeit
Hessens zum Deutschen Bunde, von deren staatsrechtlicher Bedeutung noch heute
die längst veralteten Art. 1 und 2 HV. zeugen, äußert ihre tatsächlichen Wirkungen
für Hessen insbesondere in dem mächtigen Einfluß des Bundes auf die innere Verfassung
und Verwaltung des Staates. Die rechtlichen Folgen der Bundeszugehörigkeit bestanden
namentlich in der durch die landesherrliche Publikation bedingten Rechtsverbindlichkeit
der innerhalb der Bundeskompetenz ergehenden Bundesbeschlüsse und in der an die Mit-
wirkung der Stände geknüpften Pflicht zur Erfüllung der verfassungsmäßigen Bundes-
verbindlichkeiten, endlich in dem Anspruch des Staates auf die Gewährung des Bundesschutzes
zur Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit, Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit, und
in dem Recht auf Mitwirkung bei der Beschlußfassung in der Bundesversammlung nach näherer
Vorschrift der Teutschen Bundesakte vom 5. Juni 1815 und der Wiener Schlußakte vom 15. Mai
1820. Die Souveränität des hessischen Staates wurde, da der Deutsche Bund lediglich ein
völkerrechtlicher Verein selbständiger Staaten war, durch die Bundesmitgliedschaft nicht berührt.
1 Die innere Entwicklung Hessens in der Zeit seiner Bundeszugehörigkeit zeigt im großen
und ganzen das gleiche Bild wie die Staatsgeschichte der anderen süddeutschen Staaten: Nach
dem Erlaß der Verfassungsurkunde zunächst eine allgemeine Begeisterung des Volks und hoch-
1) Die Verfassungsurkunde erscheint formell als oktroyiert; tatsächlich beruht sie jedoch, wie
oben gezeigt wurde, auf einer Vereinbarung mit der Volksvertretung. Vgl. die eingehenderen
Ausführungen über die Entstehungsgeschichte der H. V. nebst Quellenangaben bei van Calker,
Hessische Verfassungsgesetze mit Einführung und Erläuterungen, 1906 (Ergänzungsheft 1912),
S. 11—23, und die sehr gründliche Darstellung bei Andres. Bezüglich des Wesens der kon-
Eiihionenten Monarchie s. van Calker, Die staatlichen Herrschaftsformen, i. Handbuch der
Politik, Bd. I (1912), S. 138 ff.
2) Siehe namentlich die vollständige Zusammenstellung der Abänderungsgesete bei Binding,
Deutsche Staatsgrundgesetze, H. VIII, 2: Hessen, 2. A. 1912, XII ff.; van Calker V.
S. 91—158. Bezüglich der neuesten Abänderungen, die sich zu das budgetrechtliche Verhältnis
der beiden Kammern, das Zustandekommen formeller Gesetze, die Landtagswahlen und die
Zusammensetzung der Landstände beziehen, s. die drei Gesetze vom 3. Juni 1911, RBl. S. 85 ff.