168 Die Gesetzgebung. l66
Bestehen eines diesen Grundsatz beseitigenden derogatorischen Gewohnheitsrechts anerkannt
werden 1).
Die Ministerien sind hiernach — jedes für seinen Geschäftsbereich, das Staatsministerium
als solches für den Geschäftsbereich des Staatsministeriums im Sinne der Organisations-
verordnung von 1879 — zum Erlasse von Verordnungen befugt, sofern
entweder 1. eine Delegation des landesherrlichen Verordnungsrechts im Sinne des
Art. 73 HV. stattgefunden hat, wobei jedoch eine Ubertragung des Notverordnungsrechts
als unzulässig erscheint;
oder 2. eine ausdrückliche gesetzliche (reichs- oder landesrechtliche) Ermächtigung des
betreffenden Ministeriums erfolgt ist.
Selbstverständlich dürfen derartige Verordnungen nicht mit bestehenden Gesetzen oder
landesherrlichen Verordnungen in Widerspruch treten.
Bezüglich der Form der Ministerialverordnungen ergibt sich aus den vorstehenden
Erörterungen die Forderung, daß in jeder Rechtsverordnung ausdrücklich auf die erfolgte
Delegation Bezug genommen wird.
g 66. Die Polizeiverordnungen insbesondere. Dem Grundsatze des Art. 72 HV.
entsprechend, daß „ohne Zustimmung der Landstände . kein Gesetz, auch in bezug auf das
Landes-Polizey-Wesen, gegeben, aufgehoben oder abgeändert“ werden kann, bedarf der Erlaß
von Polizeiverordnungen, ebenso wie der Erlaß von Rechtsverordnungen überhaupt, der gesetz-
lichen Ermächtigung. Eine solche Ermächtigung ist ausdrücklich erfolgt zugunsten des Landes-
herrn, der Kreisräte, der Stadtbürgermeister und der besonderen staatlichen Lokalpolizeibeamten.
1. Gemäß Art. 73. HV. ist der Großherzog innerhalb der oben erörterten Schranken
allgemein zum Erlasse von „Ausführungsverordnungen“, von „Aufsichts= und Verwaltungs-
Rechtsverordnungen“ sowie von „Notverordnungen“ befugt. Wenn hier auch der Ausdruck
„Polizeiverordnung“ nicht gebraucht ist, so kann es beim Fehlen einer entgegenstehenden Spezial-
vorschrift keinem Zweifel unterliegen, daß die „Rechtsverordnungen“, zu deren Erlaß der
Großherzog durch Art. 73 ermächtigt wird, sich inhaltlich als Polizeiverordnungen charakte-
risieren können. Zu diesem unmittelbar auf der Verfassung beruhenden, generellen
Verordnungsrecht kommt ein dem Großherzog durch eine Reihe von einzelnen Reichs-
und Landesgesetzen ausdrücklich verliehenes spezielles Verordnungsrecht für
bestimmte, durch Gesetz näher umschriebene Materien ?2).
2. Den Ministerien stehen unmittelbar nach der Verfassungsurkunde keinerlei Rechts-
verordnungsbefugnisse — also auch keine Polizeiverordnungsbefugnisse — zu. Die Frage, ob der
Großherzog berechtigt ist, das ihm nach Art. 73 HV. zustehende allgemeine Verordnungsrecht
an die Ministerien zu delegieren, ist bestritten 3). Aull a. a. O. (S. 86) spricht dem Landes-
herrn diese Berechtigung aus grundsätzlichen Erwägungen schlechthin ab, Küchler (Braun
und Weber) a. a. O. (I. S. 105) bejaht diese Berechtigung ohne Angabe von Gründen.
Meines Erachtens sind die von Aull vorgetragenen prinzipiellen Bedenken an sich gerecht-
fertigt, müssen aber hinter der in Hessen bestehenden — von Aull allerdings bestrittenen —
entgegengesetzten Rechtsgewohnheit zurücktreten. Zur Begründung verweise ich auf meine
Ausführungen in § 65 S. 165, die den Beweis dafür liefern, daß gerade auch auf polizei-
lichem Gebiete Rechtsverordnungen der Minister auf Grund landesherrlicher Delegation in
Hessen stets für zulässig erachtet wurden. Daß diese Übung inkorrekt ist, möchte ich auch an
dieser Stelle nochmals ausdrücklich hervorheben. — Neben dem auf landesherrlicher Delegation
beruhenden „allgemeinen“ Verordnungsrecht haben die Minister bzw. das Staats-
1) A. M. Aull S. 87, dessen Einwendungen gegen Küchler (Braun und Weber)
1 S. 105 ich allerdings zustimme. Ohne Zweifel widerspricht das von mir im Hinblick auf die
jahrzehntelange Praxis angenommene Gewohnheitsrecht den allgemeingültigen Grundsätzen
der deutschen Staatsrechtslehre; es ist daher zu wünschen, daß diese Praxis auch in dieser Richtung
in die Bahn des strengen Konstitutionalismus einlenkt.
2) Vgl. die zutreffenden Ausführungen Aulls S. 88 f.
3) Daß eine Delegation des speziellen Verordnungsrechts unzulässig ist, bedarf wohl
keines Beweises. Vgl. im übrigen §& 65 Abs. III.