Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

8 81 Entstehung und Wirkung des Finanzgesetzes. 201 
  
aber stets als das Regelmäßige angesehen wurde, und daß sie praktisch die einzige Möglichkeit 
bildet, um auf die Dauer in konstitutioneller Weise weiter zu wirtschaften. Der letzt- 
genannten Tatsache trägt die Verfassungsurkunde dadurch Rechnung, daß sie für den Erlaß 
des Finanzgesetzes eine Reihe von eigenartigen Bestimmungen getroffen hat, welche ein Zu- 
standekommen dieses Gesetzes auch in solchen Fällen ermöglichen sollen, in denen sonst wegen 
der Schwierigkeiten einer Willenseinigung unter den gesetzgebenden Faktoren ein Scheitern 
des Gesetzes zu erwarten wäre. — Die Besonderheiten des Aktes der gesetzmäßigen Auf- 
stellung des Staatsvoranschlags, die sich teils aus dem mehrfach besprochenen Wesen des 
Finanzgesetzes, teils aus der in den meisten konstitutionellen Staaten bestehenden budgetrecht- 
lichen Vorzugsstellung der zweiten Kammer, teils aus der vorerwähnten Rücksichtnahme auf 
die praktische Notwendigkeit der Budgetvereinbarung erklären lassen, sind gemäß Art. 67 HV. 
in der Fassung vom 3. Juni 1911 die folgenden #: 
1. Das Finanzgesetz wird immer „nurauf ein Jahr '“ gegeben. Mit dem Ablaufe 
dieser Frist erlischt also das der Regierung durch das Finanzgesetz zuerkannte Recht auf Aus- 
schreibung und Erhebung von Steuern. Eine Ausnahme gilt gemäß Art. 69 HV. nur für 
den Fall, „wenn die Ständeversammlung aufgelöst wird, ehe ein neues Finanzgesetz zustande 
kommt, oder wenn die ständischen Beratungen sich verzögern“. In diesem Falle dürfen die 
Auflagen, „insoferne sie nicht bloß für einen vorübergehenden und bereits bestimmten Zweck 
bestimmt waren“, nach Ablauf der Verwilligungszeit forterhoben werden". 
2. Das Finanzgesetz soll „mit dem Hauptvoranschlage der Staats- 
einnahmen und zausgaben“ vorgelegt werden. Die im Druck hervorgehobenen 
Worte bedeuten eine durch die Verfassungsrevision vom 3. Juni 1911 geschaffene Neuerung; 
aber eine Neuerung nur im rechtlichen, nicht auch im praktischen Sinne. Denn selbst, wenn 
es nicht ausdrücklich in Art. 68 HV. gesagt wäre, daß den Kammern „eine vollständige Uber- 
sicht und Nachweisung der Staatsbedürfnisse“ vorzulegen ist, wäre diese Vorlage doch schon 
aus praktischen Gründen unerläßlich. Die Tatsache, daß den Ständen das Steuerbewilligungs- 
recht zusteht, hat mit logischer Notwendigkeit die Folge, daß die Stände von der Berechtigung 
der Steuerforderung überzeugt werden müssen. Diese Uberzeugung können die Stände 
aber unmöglich auf anderem Wege gewinnen, als durch einen klaren Einblick in die voraus- 
sichtliche Gestaltung der finanziellen Verhältnisse — Einnahmen und Ausgaben — des Staates 
in der bevorstehenden Finanzperiode; und dieser Einblick kann den Ständen nur dadurch ge- 
währt werden, daß ihnen der Staatsvoranschlag der Staatseinnahmen und aausgaben unter- 
breitet wird, wie es denn auch bisher schon tatsächlich stets geschehen ist, wenn auch die Speziali- 
sierung des Etats früher eine ungleich geringere war als heute. 
3. Die Vorlage soll zuerst bei der zweiten Kammer geschehen. 
Diese Bevorzugung der zweiten Kammer entspricht dem allgemeinen aus England stammen- 
den konstitutionellen Grundsatz, daß „das Volkshaus“ einen stärkeren Einfluß auf das Budget 
haben soll, als „das Herrenhaus“. 
4. Vor der öffentlichen Etatsverhandlung in den Plenarsitzungen der beiden Kammem 
findet zwischen den beiden Finanzausschüssen zunächst „vertrauliche Besprechung“ statt. Diese, 
dem württembergischen Recht nachgebildete Bestimmung gibt der I. Kammer die Möglich- 
keit, ihre etwaigen Bedenken gegen den Entwurf des Finanzgesetzes und des Etatsvoranschlags 
noch vor der Beschlußfassung der II. Kammer zur Kenntnis dieser Kammer zu bringen. 
5. Nach Abschluß der vertraulichen Ausschußbesprechungen beschließt hierauf zunächst 
die zweite Kammer selbständig“ (d. h. für sich allein) „über den Hauptvoranschlag und das 
Finanzgesetz“. 
6. Hierauf beschließt die I. Kammer über den Hauptvoranschlag und das Finanzgesetz in 
derjenigen Fassung, welche diese beiden Entwürfe durch die Be- 
schlüsse der II. Kammer erhalten haben. Dabe ist sie „berechtigt“, über die 
einzelnen Teile des Hauptvoranschlags und des Finanzgesetzes auch gesondert zubeschließen. 
1) Bezüglich der Entstehungsgeschichte der neuen Fassung des Art. 67 f. namentlich L. 
1908/11 II. K. Drucks. 175 (Regierungsvorlage), 301, 311 (Gegenüberstellungen), 248, 439, 586 
(Ausschußberichte von Brentano); I. K. Beil. 9, 79, 138 (Ausschußberichte Schmidt).
	        
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