8 114 Sittenpolizei. 291
Die Zwangserziehung kann von Amts wegen oder auf Antrag (zuständig: Kreisamt,
Staatsanwalt, Bürgermeister, Ortspolizei, Kreisschulkommission, Pfarramt, Eltern, Groß-
eltern, Vormund oder Pfleger) angeordnet werden. Die Entscheidung des Vormundschafts-
gerichts ist mit sofortiger Beschwerde an das Landgericht anfechtbar. Die Ausführung des
Zwangserziehungsbeschlusses geschieht durch das Kreisamt (Art. 2—6). Die Zwangserziehung
hört auf mit der Volljährigkeit oder mit der vom Vormundschaftsgericht wegen Wegfalls des
Anlasses der Zwangserziehung oder wegen anderweitiger Sicherstellung der Erziehung ange-
ordneten Entlassung des Zöglings (Art. 7).
Die Kosten obliegen zunächst den privatrechtlich zur Alimentation Verpflichteten, in
zweiter Linie — im Falle eigenen Vermögens — dem Minderjährigen selbst, endlich der
armenunterstützungspflichtigen öffentlichen Kasse. Jedoch werden der letzteren die Kosten des
eigentlichen Unterhalts, der Erziehung und der etwa notwendig werdenden Fürsorge bei der
Beendigung der Unterbringung zur Hälfte aus Staatsmitteln ersetzt (vgl. des näheren Art. 8).
Die Zahl der in Zwangserziehung befindlichen Kinder betrug am 31. März 1910 im
ganzen Staatsgebiete rund 2000; davon waren rund 700 in Anstalten, rund 1300 in Familien
untergebracht. Aus der Zwangserziehung erwuchsen im Jahre 1909 (bei 1820 Pfleglingen)
rund 292 000 Mk. Kosten, wovon auf die Gemeinden und Kreise rund 145 000, auf den Staat
rund 147.000 Mk. entfielen; dabei betrugen die jährlichen Verpflegungskosten für ein Kind
bei der Unterbringung in Fomilien durchschrittlich nur die Hälfte bis ein Drittel der Kosten
bei der Anstaltsversorgung 1).
II. Unterbringung von Pflegekindern (Kostkindern)2). Kinder
unter sechs Jahren dürfen bei Lebzeiten eines Elternteils nur mit ortspolizeilicher Erlaubnis
außer Haus gegen Entgelt in Pflege gegeben werden. Die Genehmigung ist bei ungenügender
Pflege und Fürsorge zu versagen bzw. zurückzuziehen. Durch entsprechende Melde= und
Kontrollvorschriften nebst Strafandrohung ist dafür gesorgt, daß die Polizei jederzeit Einblick
in die Art der Verpflegung und den Zustand der Pflegekinder gewinnen kann.
Am Anfang des Jahres 1910 befanden sich rund 1600 Kinder unter sechs Jahren in
entgeltlicher Pflege; hiervon waren rund 300 Kinder im Wege der öffentlichen Armenpflege
in Pflege gegeben worden 2).
III. Für die Erziehung von elternlosen und verlassenen Kindern,
von blinden, taubstummen, geistesschwachen und von epileptischen
Kindernbbestehen zahlreiche teils vom Staat, teils von den Gemeinden und den Kommunal=
verbänden, teils durch Prioatwohltätigkeit errichtete und unterhaltene Anstalten. Besonders
sind hier zu nennen die Landeswaisenanstalt in Darmstadt "#), die beiden Taubstummen-
anstalten in Bensheim und Friedberg und die Blindenanstalt in Friedberg. Die letzteren drei
Anstalten zählten im Jahre 1911 insgesamt 147 Zöglinge und 18 Lehrkräfte (darunter 3 Direktoren
und 16 Reallehrer); sie stehen unter staatlicher Verwaltung (Min. d. Inn., bzw. Abteilung für
Schulangelegenheiten) und verfolgen Erziehungs= und Unterrichtszwecke Die Aufnahme in diese
Anstalten setzt regelmäßig Zurücklegung des achten Lebensjahrs und Bezahlung eines bestimmten
Unterrichts- und Pflegegelds — gegebenenfalls durch den pflichtigen Armenverband — voraus 5).
§* 114. Sittenpolizei. Die Handhabung der Sittenpolizei obliegt den Kreisämtern
und den Ortspolizeibehörden; diese werden teils in der Form der Verordnung, teils in der
der Verfügung und des unmittelbaren Vollzugs tätig (KO. Art. 63—66, St O. Art. 129 a,
129 b, LGO. Art. 121 Z. 1, 128 a u. 128b). Die neben den einschlägigen reichsrechtlichen
1) Siehe Mitteilungen d. Zentralstelle f. Lst. B. 49 (1911) Nr. 910 S. 105. — Der Kreis
Offenbach hat eine Kreiserziehungsanstalt, bei der sich die Kosten auf 340 Mk. belaufen, während
von den auswärtigen Anstalten 450 Mk. berechnet werden.
2) G., den Schutz der in fremde Verpflegung gegebenen Kinder usw. betr., v. 10. IX.
1878, RBl. S. 118, u. Instr. v. 14. V. 1880; vgl. auch PSt G. Art. 86.
3) Siehe Mitteilungen, a. a. O. S. 262.
4) Bezüglich der Landeswaisenanstalt, welche dazu dient, durch finanzielle Beihilfe (aus
eigenem Vermögen, Staatsbeiträgen und freiwilligen Beiträgen) die geeignete Unterbringung
von Waisenkindern zu ermöglichen, s. Zeller 1 293.
5) Siehe Mitteilungen usw. Nr. 922 S. 341. Vgl. auch Zeller I1 296.
19“