Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

30 Die Organisation des Staates. Der Großherzog und das Großherzogliche Haus. 8 14 
  
wierigen Verhandlungen über das MVG. einstimmig geäußerten Wünschen beider Kammern 
Rechnung. Die in Abschnitt VII dieser Verordnung aufgestellte Bestimmung, daß Gesetze 
und landesherrliche Verfügungen von demjenigen Minister zu kontrasignieren seien, in dessen 
Departement sie einschlagen, und die im gleichen Abschnitt enthaltenen eingehenden Vor- 
schriften über stellvertretende Gegenzeichnung gehen offensichtlich von dem Gedanken aus, 
daß die Kontrasignatur etwas rechtlich Feststehendes sei 1). Auf dem gleichen Standpunkte 
steht auch die spätere Praxis. Trotz zahlreicher Abänderungen, welche die Organisations- 
verordnung von 1821 inzwischen erfahren hat, blieben die Bestimmungen über die Gegen- 
zeichnung stets unverändert bestehen und wurden stets unverändert gehandhabt. Aus diesen 
Tatsachen 2) ergibt sich das Bestehen eines Gewohnheitsrechts, wonach alle diejenigen Re- 
gierungsakte des Monarchen, für welche nicht nach der Natur der Sache 3), zufolge ausdrück- 
licher Rechtsvorschrift oder nach Gewohnheitsrecht das Gegenteil feststeht, zu ihrer Gültigkeit 
der ministeriellen Gegenzeichnung bedürfen. Dagegen geht es entschieden zu weit, lediglich 
unter Berufung auf die im einzelnen noch nicht näher untersuchte Rechtsgewohnheit schlecht- 
hin jede nicht kontrasignierte „Regierungshandlung" (so Cosack S. 3) oder jeden nicht 
gegengezeichneten „Erlaß“ des Großherzogs (so Esselborn, Diss. S. 93) als rechtlich un- 
verbindlich und nicht vollziehbar zu bezeichnen. Der Beweis, daß bestimmte Regierungs- 
handlungen des Monarchen der Natur der Sache nach ausnahmsweise auch ohne Gegen- 
zeichnung rechtliche Wirkungen zu äußern vermögen, wird im konkreten Fall nicht ohne weiteres 
von der Hand gewiesen werden können 4); insbesondere gilt dies beispielsweise von solchen 
das Kontrasignieren zwar etwas sehr Wünschenswertes sei, daß es zur gewöhnlichen Geschäfts- 
ordnung gehöre, und „daß es sich gar nicht erwarten läßt, daß jemand daran denke, es abzustellen,“ 
daß es aber gleichwohl nicht wünschenswert sei, den Willen des Regenten an eine einzige Außerungs- 
form zu binden und schlechthin jeden Befehl für nichtig und wirkungslos zu erklären, wenn er 
diese Form dann nicht einhalte (L V. 1 1820 Beil. 15 S. 57; Beil. 19 S. 84f.; vgl. hierzu auch die 
Gegenbemerkungen des Ausschußreferenten Dr. Arens a. a. O. Beil. 18 bes. S. 75 f.). Die 
Meinung des Frhr. du Thil drang zunächst durch. Die I. Kammer erklärte es zwar als sehr wünschens- 
wert, wenn hinsichtlich der Kontrasignatur der Befehle des Regenten eine erschöpfende Anordnung 
erfolgte, bezeichnete aber diese Anordnung als eine Angelegenheit der dem Regenten ausschließ- 
lich reservierten Behördeneinrichtung und Geschäftsregelung und begnügte sich daher vorerst 
mit dem Beschlusse, bei der Annahme des MVG. den Wunsch auszusprechen, daß der Großherzog 
hinsichtlich der für den gesetzlichen Zweck nötigen (d. h. für die Durchführung des MVG. nötigen) 
Kontrasignatur seiner Befehle selbst das Geeignete und Erforderliche anordnen möchte.“ (L. 
1 1820/21 Beil. 26 S. 109 f.) Dementsprechend wurde die Frage, ob die Kammer wolle, „daß 
die Notwendigkeit der Kontrasignatur aller vom Großherzog unmittelbar ausgehenden, die Staats- 
verwaltung betreffenden Verfügungen in das Gesetz ausgenommen werde?“ von der I. Kammer 
mit großer Majorität verneint (LV. 1 1820/21 Prot. 56 S. 145). Bei der letzten Beschlußfassung 
über die Gesetzesvorlage wurde indessen dieser frühere Beschluß wieder aufgehoben, worauf 
mit 11 gegen 3 Stimmen beschlossen wurde, sich nunmehr dem Beschlusse der II. Kammer an- 
zuschließen, „daß die Erläuterung über die Notwendigkeit der Kontrasignatur der von dem Groß- 
herzog unmittelbar ausgehenden, die Staatsverwaltung betreffenden Verfügungen in das Gesetz 
aufzunehmen sey.“ (LV. 11820/21 Prot. 76 S. 145 f.; L V. II 1821 B. 3 Beil. 366 S. 17 ([Dritter 
Ausschußbericht Floretl.) 
1) Über die frühere Praxis vgl. LV. 1 1820—21 Prot. 74 S. 119 f. (Prinz Emil von Hessen). 
2) Ich leite also die Notwendigkeit der Gegenzeichnung im Gegensatze zu Esselborn, 
Die Ministerverantwortlichkeit i. Gr. H., Gieß. Diss. 1902, S. 92 nicht unmittelbar aus Abschn. VII 
der Organisationsverordnung v. 28. Juni 1821, sondern aus dem von Esselborn geschilderten 
Gewohnheitsrecht ab, dessen Entstehen durch diese organisatorische, instruktionelle Vor- 
schrift allerdings wohl wesentlich verursacht wurde. Das Bestehen dieses Gewohnheitsrechts 
wird zwar auch von Esselborn, Diss. S. 93, betont, jedoch nur subsidiär zur Begründung 
der Notwendigkeit der Kontrasignatur herangezogen. 
3) Hiernach wäre beispielsweise die Kontrasignatur unnötig bei der Erteilung des Auftrags, 
ein Gutachten zu erstatten, irgendeine vorbereitende Arbeit auszuführen, einen Bericht zu liefern. 
4) Daß die Gegenzeichnung nach hess. Recht keine wesentliche Voraussetzung der 
Ministerverantwortlichkeit ist, ist in der Literatur (vgl. bes. v. Frisch, S. 198, 
Esselborn, Diss. S. 92) allgemein anerkannt. Daß die Gegenzeichnung Voraussetzung 
der Rechtsgültigkeit landesherrlicher Regierungsakte sei, wird von Küchler, Ver- 
fassungs= u. Verwaltungsrecht d. Gr. H., Darmstadt 1894 f. (3. A. hrsg. v. Braun u. Weber) I 
S. 136 Anm. 2 als „zum mindesten sehr zweifelhaft“ bezeichnet, von Cosack S. 3 und Esselborn 
Diss. S. 93, Annalen 1906, S. 551, dagegen bejaht. Vgl. hierüber des Näheren unten # 32.
	        
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