Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

8 14 Die Regierungsrechte des Großherzogs. 31 
  
Verfügungen, welche der Großherzog in Ausübung der ihm noch zustehenden kontingents- 
herrlichen Rechte erläßt 1). 
Im einzelnen äußert sich die organische Rechtsstellung des Großherzogs in folgenden 
Richtungen: 
1. Der Großherzog ist, obgleich er, von bestimmten verfassungsmäßigen Ausnahmefällen 
abgesehen, nicht befugt ist, ohne Mitwirkung der Volksvertretung Rechtssätze aufzustellen, 
der eigentliche Träger der Gesetzgebungsgewalt. Dies äußert sich einmal in der 
ihm ursprünglich allein zustehenden Befugnis der Gesetzesinitiative:) (Art. 76), dann in dem 
Rechte der Mitwirkung bei der Feststellung des Gesetzesinhalts, endlich in den ihm zukommen- 
den Befugnissen der Sanktion, der Ausfertigung und der Verkündigung des Gesetzes 3). Ein 
Ausfluß dieser Gesetzgebungsbefugnis ist das dem Großherzog innerhalb der verfassungs- 
mäßigen Schranken (s. HV. Art. 73) zustehende Rechtsverordnungsrecht /). 
2. Der Großherzog ist der Träger der vollziehenden Gewalt; die Organi- 
sation der gesamten Exekutive hat in ihm ihre oberste Spitze; die Tätigkeit sämtlicher Exekutiv- 
organe findet in ihm ihren Ausgangspunkt, sieht in seinem Befehl ihre gesetzliche Vollmacht 
und Rechtfertigung. Der Großherzog hat den Staat in Gemäßheit der Verfassung und der 
Gesetze zu verwalten und die Integrität des Großherzogtums und die Rechte der Krone zu 
erhalten (vgl. HV. 107); zu diesem Zwecke hat er das Recht und die Pflicht, in eigener Person 
und mit Hilfe der von ihm beauftragten Organe, die Gesetze zu vollstrecken und zu handhaben, 
die gesamte Staatstätigkeit zu beaufsichtigen, die Verwaltung aller staatlichen Einrichtungen 
zu leiten und die Sicherheit des Staates zu schützen (vgl. HV. Art. 73). Eine besonders 
wichtige Konsequenz dieser Befugnisse ist das landesherrliche Organisationsrechtzö). 
Bei der Ausübung dieser Zuständigkeiten ist der Großherzog indessen nicht uneingeschränkt; 
wenngleich er auf dem Gebiete des Vollzugs im Gegensatz zu dem Gebiete der Rechtsetzung 
von der Zustimmung der Volksvertretung grundsätzlich unabhängig ist, ist er doch ständig ge- 
bunden durch die Rücksicht auf das Gesetz. Für bestimmte Verwaltungsakte ist sogar aus- 
drücklich die bestimmende Mitwirkung der Volksvertretung vorgeschrieben; dies ist überall da 
der Fall, wo für einen staatlichen Verwaltungsakt die Form des Gesetzes oder die Einholung 
der landständischen Zustimmung angeordnet ist (vgl. z. B. HV. Art. 67; Art. 10 Abs. 1; ferner 
Enteignungsgesetz vom 26. Juli 1884 i. d. F. d. Bek. vom 30. Sept. 1899, RBl. S. 735 Art. 2 
Abs. 2). 
3. Der Großherzog ist der Träger der richterlichen Gewalt; er ist indessen in 
deren Ausübung so sehr beschränkt, daß es sich hierbei nahezu nur noch um ein nudum jus 
handelt. Wenngleich die richterlichen Beamten vom Landesherrn ernannt werden und von 
ihm die Vollmacht zur Ausübung richterlicher Befugnisse erhalten, und wenngleich die Richter 
im Namen des Landesherrn Recht sprechen, so steht dem Großherzog doch keinerlei Einfluß 
auf das gerichtliche Verfahren und auf die Urteilsfällung zus). Die einzigen wesentlichen 
Rechte, welche dem Landesherrn in bezug auf die Ausübung der richterlichen Gewalt noch 
verblieben sind, sind das Abolitionsrecht'?) und das Begnadigungsrecht — 
wobei dahingestellt bleiben mag, ob es sich hier nicht vielleicht mehr um Akte der Exekutive, 
als um Akte der richterlichen Gewalt handelt. 
1) Bgl. Esselborn, Diss. S. 8 u. S. 95, Ann. S. 280. Hiernach ist „nur“ bei Verfügungen, 
die der Monarch in seiner Eigenschaft als oberster Kriegsherr erläßt, bei Verleihung von Orden 
und Ehrenzeichen, sowie bei Ausübung der Episkopalrechte über die brangelische Kirche eine 
Gegenzeichnung nicht vorgeschrieben. Indessen gibt Esselborn, Diss. S. 118 Anm. 371, 
selbst eine weitere Ausnahme an. 
2) Über die Einräumung dieses Rechtes an den Landtag vgl. Geschäftsordnungsgesetz Art. 19; 
van Calker S. 138. 
3) Siehe hierüber unten §# 64. 
4) Siehe hierüber unten |# 65. 
5) Vgl. van Calker S. 135, Anm. 3; Aull, das landesherrliche Verordnungsrecht 
im Großherzogtum Hessen, Gießener Diss., Leipzig 1909, . 90—1|1# 
6) Siehe HV. Art. 32, materiell ersetzt durch 6VG. E 
7) Vgl. Heimberger, Das landesherrl. Abolitionsrecht, Leipzig 1901, S. 50, 53.
	        
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