54 Die Organisation des Staates. Die Volksvertretung. 5 24
(Art. 81) an den Großherzog zu bringen. Irgendeine besondere staatsrechtliche Folge ist
allerdings an das Vorbringen einer solchen Beschwerde oder eines solchen Wunsches nicht
geknüpft 1); die Regierung wird hierdurch unmittelbar in keiner Weise zu irgendeinem be-
stimmten Tun oder Lassen verpflichtet. Gleichwohl ist das Bestehen des Beschwerde= und
des Petitionsrechts von großer praktischer Bedeutung. Auf der einen Seite wirkt zweifellos
die Tatsache, daß die Regierung und jeder einzelne Beamte stets gewärtigen müssen, wegen
ihres „Benehmens“ vor das Forum des Landtags gezogen zu werden, präventiv; auf der
anderen Seite ist der Volksvertretung durch die Befugnis zur Entgegennahme und Prüfung
von Beschwerden und Petitionen und zu deren Hinübergabe an die Regierung nach La-
bands treffendem Ausdruck 2) „die Eigenschaft eines öffentlichrechtlichen Rügegerichts"
gegenüber den Verwaltungsbehörden gegeben worden.
Das Beschwerderecht der Landstände war gemäß Art. 79, 80 HV. von jeher völlig frei
und uneingeschränkt. Es findet sich auch schon in den Zugeständnissen des Verfassungsedikts
vom 18. März 1820 (RBl. S. 101), Art. 21 und 22, und wird dort, insoweit es sich um Be-
schwerden gegen Staatsbeamte handelt, noch ausdrücklich damit begründet, daß es der emst-
liche Wille des Landesherrn sei, „daß jeder Staatsdiener mit Sorgfalt und Pünktlichkeit seine
Pflichten erfülle und nicht, ganz gegen Unsre wohlmeinenden und väterlichen Absichten, Miß-
trauen und Unzufriedenheit veranlasse“. Die Eigenschaft des Beschwerderechts als einer
ständischen Kontrollbefugnis geht aus diesen, später weggefallenen Worten deutlich hervor.
Anders war die Sachlage ursprünglich beim Petitionsrechts). Der Art. 81 HV.
zieht der Möglichkeit des Petitionierens, insoweit wir darin ein Recht der Einzelnen (und
der Korporationen) zu sehen haben, sich mit ihren Bitten und Beschwerden an die Kamme#m
zu wenden, sehr enge Grenzen. Denn er verbietet Petitionen in bezug auf allgemeine poli-
tische Angelegenheiten schlechthin, Petitionen in individuellen Angelegenheiten aber erklärt
er wenigstens insoweit für unzulässig, als nicht gleichzeitig mit Einreichung der Petition der
Nachweis erbracht wird, daß die gesetzmäßigen Wege, um bei den Staatsbehörden selbst Ab-
hilfe zu erlangen, bereits vergeblich eingeschlagen wurden. Die hessische Verfassung nimmt
somit hinsichtlich der Gestaltung des Petitionsrechts ursprünglich eine eigenartige Ausnahme-
stellung ein, für welche sich in den Konstitutionen der übrigen deutschen Staaten kein Analogon
findet. Durch das Gesetz, das Petitions= und Versammlungerecht betr., vom 16. März 1848
wurde indessen der Art. 81 HV. „hinsichtlich aller darin enthaltenen Beschränkungen des
Petitionsrechts“ aufgehoben, so daß seitdem nicht nur das „Petitions einbringungs-
recht“, d. h. die Befugnis des Einzelnen, Petitionen vor die Kammern zu bringen, sondern
auch das „Petitionsüberweisungsrecht“, d. h. die Befugnis der Kammern, die an sie
gelangten Petitionen zu prüfen und eventuell an die Regierung zu überweisen, von allen
Schranken befreit ist:). Von besonderer Bedeutung ist hierbei für die Landstände die Beseitigung
der zumal das ständische Petitionsrecht („Petitionsüberweisungsrecht") stark einengenden
Vorschrift des Art. 81 Abs. I. Während der Landtag durch diese Vorschrift bisher verfassungs-
mäßig daran verhindert war, Petitionen beschwerdeführend an die Regierung weiterzugeben,
ehe der Nachweis geliefert war, daß der betreffende Petent die gesetzlichen und verfassungs-
mäßigen Wege, um bei den Staatsbehörden eine Abhilfe seiner Beschwerde zu erlangen, ver-
geblich eingeschlagen habe“, ist er nun von dieser Beschränkung befreit 5). Dies ist namentlich
1) Hieraus erklärt sich auch die unten erwähnte Abweichung von dem oben S.3 geschilderten
Prinzip der organischen Einheitlichkeit des Landtags.
2) Siehe Laband, RStR. (große Ausg.) 5. A., B. I, S. 306.
3) Vgl. hierzu van C alker, Entstehung, Echllih Natur und Umfang des Petitions-
rechts nach bessischem Staatsrecht; in den „Staatsrechtlichen Abhandlungen“, Festgabe für
Paul Laband, II (1908) S. 363—411.
4) rend tn der Unterscheidung zwischen betitionseinbringungsrecht und Petitionsüber-=
weisungsrecht s. van Calker, Petitionsrecht, a. a. O. S. 414 ff.
5) Ich glaube in der oben zitierten Abhandlung (vgl. namentlich S. 397—405 u. 408) den
Nachweis für bie bisher vielfach bestrittene Aufhebung des Art. 81 Abs. I in seinem vollen
Umfange geliefert zu haben. Von dem ganzen Art. 81 ist m. E. nur noch der zweite Absatz in
Geltung geblieben dabei ist selbstverständlich das auf den vorhergehenden Absatz verweisende
Wort „solche“ (in dem Zusammenhange „Eine solche Petition“..) zu streichen.