Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band XIX. Das Staatsrecht des Großherzogtums Hessen. (19)

5*24 Die organischen Zuständigkeiten der Kammern. 55 
  
für den Fall wichtig, daß sich jemand in irgendeiner Angelegenheit bei den Staatsbehörden 
beschwert hat, ohne überhaupt eine Antwort bekommen zu haben, wofür unter Umständen 
der positive Nachweis schwer zu erbringen ist. Die Stände konnten sich vor dem Gesetze von 
1848 mit einem derartigen Falle überhaupt nicht materiell befassen, während es heute ihrem 
pflichtgemäßen Ermessen anheimgegeben ist, ob sie in eine materielle Prüfung der ihnen vor- 
liegenden Petition eintreten und was sie weiter in der Sache beschließen wollen. Dabei ist 
es allerdings im Interesse der Geschäftsordnung des Landtags und auch im Interesse der 
Staatsbehörden dringend wünschenswert, daß die Stände von sich aus an dem Grund- 
satze festhalten, in der Regel auf verfrühte Beschwerden vorerst gar nicht einzugehen und sich 
nur in seltenen Ausnahmefällen mit deren Prüfung zu befassen 1). 
Kommt der Landtag zu der Uberzeugung, daß das Ergebnis der von ihm vorgenommenen 
Prüfung einer Petition ein weiteres Tätigwerden der staatlichen Behörden erfordere, so wird 
er die Petition unter näherer Formulierung seiner Wünsche an die Regierung bzw. an den 
Landesherrn überweisen; nach der Verfassung kann dies auch in der Form einer Beschwerde 
geschehen 2). Die Regierung bzw. der Landesherr hat gegenüber der Beschwerde oder dem 
sonstwie gefaßten Beschlusse der Stände rechtlich vollständig freie Hand: Die Möglichkeiten 
liegen auf der Linie von der völligen Nichtbeachtung des ständischen Beschlusses 3) bis zur Er- 
hebung der Ministeranklage durch den Großherzog, bzw. zum Rücktritt oder zur Entlassung 
des Ministeriums. 
Als Besonderheit des ständischen Beschwerde= und Petitionsrechts ist noch hervorzuheben, 
daß, wenn eine Kammer der anderen in Hinsicht auf eine Petition oder Beschwerdeführung 
nicht beistimmen sollte, jener gleichwohl die Befugnis zusteht, „die Höchste Regierung" (d. h. 
den Großherzog) von ihrem einseitigen Beschlusse in entsprechender Weise in Kenntnis zu 
setzen (HOV. Art. 82). Hierin liegt eine wesentliche Abweichung von dem sonst festgehaltenen 
Grundsatze, daß nur den übereinstimmenden Mehrheitsbeschlüssen beider Kammern die 
Bedeutung eines staatsrechtlich relevanten Willensaktes des Landtags zukommt ). 
2. Informationsrecht (Interpellationsrecht)5). Die Verfassungs- 
urkunde hat ein Interpellationsrecht, d. h. ein Recht der einzelnen Ständemitglieder, über 
irgendwelche Staatsangelegenheiten Anfragen an die Regierung zu richten, nicht ausdrücklich 
statuiert; gleichwohl ist eine derartige Befugnis der Stände zweifellos als zu Recht bestehend 
anerkannt. Das Bestehen eines Interpellationsrechts ergibt sich vor allem als eine logische 
Folgerung aus dem Bestehen des unter Ziff. 1 behandelten Beschwerderechts, dem gegenüber 
es zweifellos als das Minus erscheint; seine tatsächliche Anerkennung erhellt aber auch aus 
Art. 22 des Geschäftsordnungsgesetzes v. 1874, der das Interpellationsrecht als eine bestehende 
1) Bgl. van Calker, Petitionsrecht, a. O. S. 404 f. 
2) Gelegentlich der Diskussion über das Wc isnbahliten. s8geset bemerkte der Abg. 
Frhr. v. Gagern zutreffend, daß die Waffen der Kammern gegen das Ministerium von viererlei 
Art seien: „Erstens der bloße üble Humor, dem ein Mmhreium selten lang zu widerstehen 
pflege; zweitens Widerspruch und Zank, der entweder zur Beilegung oder zu anderen Folgen 
kunehre. drittens, Beschwerde bei dem Fürsten über die Amtsführung, viertens die solenne An- 
klage über schwere und bestimmte Vergehungen.“. . VW. II 1821 B. 3 Prot. 114 S. 57. 
3) Bgl. hierzu LV. 1 1820/21 Beil. 72 S. 84 f. 
4) Bezüglich des Verfahrens bei derartigen einseitigen Beschlüssen bgl. L B. II 1820, H. 14 
S. 162; H. 16 S. 1, Beil. 263 (Bericht Schenk); H. 17 S. 101 u. 156. 
5) Wesen und Bedeutung des Interpellationsrechts weisen in den verschiedenen Staaten 
goße Verschiedenheiten auf. Als der regelmäßige Zweck der einschlägigen parlamentarischen 
efugnisse ist jedenfalls einerseits die Information der Parlamentsmitglieder, anderer- 
seits die Kontrolle der Staatsverwaltung durch das Parlament zu bezeichnen. 
Vgl. über die einschlägigen Fragen Anschütz, Staatsrecht S. 5854 Hatschek, Das Inter- 
pellationsrecht im Rahmen der modernen Ministerverantwortlichkeit, Leipzig 1909, und besonders 
Rosegger, Das parlamentarische Interpellationsrecht, Leipzig 1907. — Die heutige Rege- 
lung des Interpellationsrechts der hessischen Landstände entstammt im wesentlichen den Art. 25, 
26 des Geschäftsordnungsgesetzes vom 10. X. 1849. Für diese Bestimmungen aber waren in der 
Hauptsache die Vorschläge der deutschen Nationalversammlung vom 28. VII. 1849 „über die Art 
und Weise, wie Interpellationen in der Reichsversammlung an den Reichsminister zu richten 
sind“ als Vorbild maßgebend. (Vgl. L V. II 1847/49 Beil. 649 S. 8; s. auch L V. II 1851/65 
BeilB. 14 Nr. 883 S. 2.) 
 
	        
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